Arkadien 01 - Arkadien erwacht
vergraben hatte, machte sie sich auf den Weg in den Wald.
Noch immer wie gerädert, aber seltsam euphorisch stieg sie den Berg oberhalb des Anwesens hinauf. Die Sonne schien zwischen den Ästen hindurch, ein warmer Wind strich aus der Ebene herauf. Es roch nach Harz und warmen Piniennadeln.
Selbst als sie die Stelle passierte, an der sie der Tiger bedroht hatte, spürte sie nur leichtes Unwohlsein im Bauch. Hatte Tano vorgehabt, sie zu töten, und dabei einen Bruch des Konkordats in Kauf genommen? Oder hatte er sie nur erschrecken wollen, damit sie schleunigst dorthin verschwand, wo sie hergekommen war?
Sie verdrängte den Gedanken an ihn, auch an Alessandro, sogar an Iole, als sie endlich die Waldschlucht erreichte und der Felskante nach Osten folgte.
Hinter den Bäumen wurde das verfallene Bauernhaus sichtbar. Die gelblichen Mauern lagen im Schatten, ein ganzer Anbau war von Ranken und Dickicht überwuchert. Bei Tag wirkte das Gemäuer noch elender als im Dunkeln. Erst als sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass die eine Hälfte des durchhängenden Dachstuhls ein wenig höher zwischen den verfallenen Wänden saß als die andere und womöglich abgestützt wurde. Auch dass die Fensterläden geschlossen und nicht längst aus den rostigen Scharnieren gebrochen waren, wies auf Bewohner hin. Ganzabgesehen von dem Stromkabel, das ihr schon in der Nacht aufgefallen war.
Sie machte kein Geheimnis aus ihrer Anwesenheit, ging schnurstracks auf das Haus zu, klopfte am Eingang und hoffte, dass ihr niemand mit einer Schrotflinte den Schädel wegblasen würde, sobald die Tür geöffnet wurde.
Aber die Haustür blieb zu. Niemand antwortete.
Sie versuchte es erneut.
Das fleckige Holz war glatt und stabil unter ihren Knöcheln. Mit irgendetwas behandelt, damit es alt und wettergegerbt wirkte.
»Guten Tag, Rosa«, sagte eine Stimme. Nicht hinter der Tür, sondern zwischen den Bäumen, rechts von ihr.
Sie drehte sich sehr langsam um. Keine schnelle Bewegung. Nur nichts überhasten. Die Flinte, die sie hinter der Tür vermutet hatte, schob sich zuerst aus den Schatten. Eine doppelläufige, abgesägte Mündung. Altersfleckige Hände, sehnig und dunkel geädert unter pergamentdünner Haut. Ein brauner Wollpullover, der sich an Saum und Ausschnitt auflöste. Eine schmutzige Stoffhose, darunter grobe Schnürstiefel.
Sein Haar war schneeweiß und am Hinterkopf zusammengebunden. Alte Männer mit Pferdeschwanz waren ihr seit jeher suspekt, auch ohne Gewehr. Dieser hier trug noch dazu eine Augenklappe und sie fragte sich unwillkürlich, ob diese Staffage so unecht war wie die künstlich gealterte Tür und die Ruine, in der er hauste.
»Sie kennen mich«, stellte sie fest.
»Du bist Rosa. Zoes Schwester.«
Sie trug über Jeans und T-Shirt eine von Zoes Lederjacken. Womöglich hatte er sie wiedererkannt und die richtigen Schlüsse gezogen. Aber etwas sagte ihr, dass er das gar nicht nötig hatte. Weil er nicht nur ihren Namen kannte, sondern ihr Gesicht und weiß Gott was noch. Plötzlich fühlte sie sich nackt unter dem stechenden Blick seines einen Auges.
»Wollen Sie mich erschießen?«
»Nein«, sagte er, aber das Gewehr wies weiterhin in ihre Richtung. »Du fürchtest dich nicht davor. Das ist gut. Nach allem, was ich über dich gehört habe, war ich sicher, dass du eine echte Alcantara bist.«
»Hätte es dafür nicht auch mein Ausweis getan?«
Er ließ die Waffe sinken, kam auf sie zu und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Ihre Hand zuckte hoch, um zurückzuschlagen, aber da packte er schon ihren Knöchel und hielt sie fest. Der Griff seiner Finger war erstaunlich kraftvoll und schmerzhaft. Ihre Wange glühte, aber die Hitze hatte mehr mit ihrer Wut zu tun als mit seinem Schlag.
»Ich entschuldige mich bei dir«, sagte er und ließ nicht zu, dass sie sich mit einem Ruck von ihm losriss. Erst dann gab er sie frei. Sie trat einen einzelnen Schritt zurück. Er lächelte, keineswegs unfreundlich. Seine Züge waren faltig und hager. Mitte siebzig, schätzte sie. Möglicherweise älter.
»Wofür war die Ohrfeige?«, fragte sie gefasst.
»Ich hab dich schon um Verzeihung gebeten.«
»Ich bin nicht taub.«
»Du nimmst meine Entschuldigung nicht an?«
»Macht man das hier so? Zuschlagen und sofort um Verzeihung bitten?«
»Nur wenn es berechtigt ist. Du warst vorlaut deinem capo gegenüber. Du musst lernen, dass das ein schlimmes Vergehen ist. Zugleich aber sollst du wissen, dass ich nicht nachtragend bin, schon gar
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