Arkadien 01 - Arkadien erwacht
war, weil kein Wort über ihre Lippen kommen wollte, nur ein Fauchen und Zischen, das in ihren eigenen Ohren fremd und grauenerregend klang.
Die Arkadischen Dynastien
R osa und Alessandro saßen in Decken gehüllt im Salon auf dem Oberdeck, zwischen blinkenden Goldbeschlägen und Täfelungen aus exotischen Hölzern. Im Kamin flackerten künstliche Flammen aus Kunststoff, aus einem versteckten Gebläse drang sanfte Wärme, die nach Kiefernholz duftete.
»Ich hab noch nie im Leben so was Scheußliches gesehen«, sagte Rosa und meinte nicht die Zwinger auf der Insel.
»Kann sich nicht jeder leisten«, sagte Alessandro, »also muss es was Besonderes sein. Hat jedenfalls mein Vater geglaubt.«
Sie saßen sich in zwei schweren Ohrensesseln vor dem Kamin gegenüber. Die Jacht befand sich auf dem Rückweg in ihren Heimathafen an Siziliens Nordküste und würde noch über zwei Stunden unterwegs sein. Die See war stürmisch, aber das Gewitter hatte aufgehört.
Rosa trug einen flauschigen, viel zu großen Bademantel und Hausschuhe aus Fell. Ihre eigenen Sachen steckten im Trockner auf dem Unterdeck. Sie hatte sich tief in den Sessel verkrochen und die bepflasterten Knie eng an die Brust gezogen. Der Saum ihrer Decke reichte bis unters Kinn. Sie fror noch immer, aber das rührte sicher auch von ihrer Müdigkeit her.
»Also«, sagte sie auffordernd.
Alessandro hatte den Norwegerpullover eines Crewmitglieds übergestreift und eine alte Jeans, die er in einer der Kabinen gefunden hatte; die des Aufsehers, die er im Zwinger getragen hatte, war jetzt wieder bei ihrem Besitzer, irgendwo unter Deck, wo die Männer ihn eingesperrt hatten. Auch Alessandro hatte sich in eine Decke gewickelt, in seinen Händen dampfte eine Teetasse. Rosa hasste Tee.
»Du weißt wirklich nichts darüber?«, fragte er.
Sie starrte ihn über den Rand der Decke an und schüttelte den Kopf. Ganz allmählich fand sie zu ihrer alten Ungeduld zurück.
»Das Buch, die Fabeln des Äsop «, sagte er, »ich hab’s dir gegeben, weil ich wissen wollte, wie du darauf reagierst. Um herauszufinden, was sie dir erzählt haben. Wenn du Bescheid gewusst hättest, dann hättest du irgendwas gesagt. Dich verraten.«
»Woher willst du das wissen? Du kanntest mich doch gar nicht.«
Er grinste. »Ich hab dich im Flugzeug erlebt.«
Sie seufzte leise.
»In den Fabeln geht es um Tiere mit den Charaktereigenschaften von Menschen. Und wir alle, deine Familie, meine Familie, viele von den anderen – wir sind etwas ganz Ähnliches. Oder das genaue Gegenteil, je nachdem, wie man’s sieht.«
Sie erwog kurz, sich dumm zu stellen, damit er es endlich aussprach: Menschen, die sich in Tiere verwandelten. In Tiger und Schlangen und Panther.
»Hast du jemals von den Arkadischen Dynastien gehört?«
Sie schüttelte den Kopf und dachte, dass dies jetzt wohl der Alessandro war, der in einem Internat im Hudson Valley in Rhetorik unterrichtet worden war.
»In den Mythen der Griechen taucht immer wieder ein Land auf, das den Namen Arkadien trägt. Es gibt auch heute noch ein Arkadien, eine griechische Provinz, aber dort hat man nur den alten Namen übernommen. Das frühere Arkadien, das aus den antiken Geschichten, war ein griechisches Inselreich im Mittelmeer. Im Laufe der Jahrtausende hat es auch noch ein paar andere Namen gehabt.«
»Und das haben sie euch auf Hogwarts beigebracht?«
»Atlantis ist einer davon.«
Sie schenkte ihm einen strafenden Blick. »Panther, Alessandro. Und Löwen. Nicht kleine grüne Männchen.«
Er schlürfte einen Schluck von seinem Tee, verzog das Gesicht und fuhr fort: »In den frühesten Legenden der Griechen waren es immer nur die Götter, die die Gestalt von Tieren annehmen konnten – niemals die Menschen. Aber das hat sich geändert, als der Göttervater, Zeus, eines Tages dem Reich Arkadien einen Besuch abgestattet hat. Dort herrschte ein König namens Lykaon, und er war vor allen Dingen ein Verbrecher.«
»Wie wir«, sagte sie freudlos.
»Lykaon war nicht nur ein Tyrann, er war auch Kannibale. Als Zeus an seiner Tafel saß, ließ der König große Fleischspieße auftischen. Zeus kostete davon und erkannte sofort die Wahrheit. Vor Wut und Abscheu verfluchte er ganz Arkadien, vor allem aber seinen Herrscher. Er verwandelte Lykaon in einen Wolf, damit jeder gleich erkennen sollte, was für eine Bestie er war und wovon er sich ernährte.«
»Wir haben ja Zeit«, stichelte sie. »Fang ruhig bei den Dinosauriern an – solange du nur
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