Arm und Reich
eine Kehrseite haben. So genießen die Bewohner der Industriestaaten zwar verglichen mit Jägern und Sammlern zweifellos eine bessere medizinische Versorgung, kommen nicht so häufig durch Totschlag ums Leben und haben eine höhere Lebenserwartung. Doch dafür können sie erheblich weniger auf die Hilfe von Freunden und Großfamilien zählen. Mein Motiv für die Untersuchung der geographischen Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften hat rein gar nichts damit zu tun, einen Gesellschaftstypus als den anderen überlegen zu feiern – mir geht es ganz allein um ein Verständnis dessen, was in der Geschichte passierte.
Mußte wirklich noch ein weiteres Buch geschrieben werden, um Yalis Frage zu beantworten? Kennen wir die Antwort nicht schon längst? Und wenn ja, wie lautet sie?
Die am häufigsten vorgebrachte Erklärung geht mehr oder weniger explizit von biologischen Unterschieden zwischen den Völkern aus. In den Jahrhunderten nach 1500, als europäische Entdeckungsreisende Kenntnis von den großen Unterschieden zwischen den Völkern der Welt in puncto technischer und politischer Entwicklung erlangten, wurden diese als Ausdruck unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten interpretiert. Mit dem Siegeszug der Darwinschen Lehre wurde die Erklärung dahingehend abgewandelt, daß nun natürliche Selektion und Evolution in den Vordergrund gestellt wurden. Demnach wurden Völker, die auf technisch niedriger Stufe standen, als evolutionäre Überbleibsel der menschlichen Abstammung von affenähnlichen Vorfahren betrachtet. Die Verdrängung dieser Völker durch Kolonisten aus industrialisierten Gesellschaften wurde gar als Beispiel für das Überleben des Stärkeren angeführt. Mit dem späteren Aufkommen der Genetik wurde die Erklärung erneut revidiert. Fortan galten Europäer als genetisch intelligenter als Afrikaner und insbesondere australische Aborigines.
Heute wird Rassismus in der westlichen Gesellschaft von breiten Schichten der Bevölkerung nach außen hin abgelehnt. Insgeheim oder unbewußt hegen jedoch immer noch viele Menschen (vielleicht sogar die meisten!) rassistische Vorstellungen. In Japan und vielen anderen Ländern werden diese sogar öffentlich und ohne jeden Versuch der Rechtfertigung vorgebracht. Selbst gebildete weiße Amerikaner, Europäer und Australier erkennen, wenn die Sprache auf australische Aborigines kommt, etwas Primitives an diesen. Sehen sie nicht völlig anders aus als Weiße? Viele der heutigen Nachfahren der Aborigines, die die Ära der europäischen Kolonisation überlebten, tun sich zudem schwer damit, in der weißen australischen Gesellschaft wirtschaftlich Fuß zu fassen.
Ein scheinbar zwingendes Argument lautet so: Weiße Einwanderer errichteten in Australien einen Staat auf der Grundlage von Metallwerkzeugen und Landwirtschaft mit Attributen wie alphabetisiert, industrialisiert, politisch zentralisiert und demokratisch, und das alles binnen eines Jahrhunderts nach Besiedlung desselben Kontinents, auf dem die Aborigines seit mindestens 40 000 Jahren als Jäger und Sammler in Stammesgemeinschaften ohne Metall gelebt hatten. Es handelt sich mithin um zwei geschichtliche Experimente mit identischer Umwelt, wobei die einzige Variable die Völker waren, die sich ihrer bemächtigten. Müssen die Unterschiede zwischen den Gesellschaften der australischen Aborigines und der Europäer da nicht zwangsläufig auf Unterschiede zwischen den Völkern selbst zurückgeführt werden?
Derart rassistische Erklärungen sind nicht nur widerwärtig, sondern auch falsch. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis für eine Parallele zwischen Intelligenz und technischem Entwicklungsstand. Im Gegenteil, noch existierende »Steinzeitvölker« besitzen im Durchschnitt eher mehr und nicht weniger Intelligenz als die Bewohner der Industrieländer, wie ich gleich erläutern werde. Es mag paradox klingen, aber die weißen NeuAustralier können das Verdienst für den Aufbau einer Industriegesellschaft mit den genannten Errungenschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, wie sie es gerne tun (siehe Kapitel 14). Auch ist regelmäßig zu beobachten, daß Angehörige von Völkern, die bis vor kurzem auf technisch primitiver Stufe standen, die Technik des Industriezeitalters bestens meistern, wenn sie nur die Chance erhalten.
Die kognitive Psychologie hat ausgiebig nach IQ-Unterschieden zwischen Angehörigen von Völkern unterschiedlicher
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