Arm und Reich
rigoroser erfolgte als in den dichter besiedelten Regionen mit komplexen politischen Organisationsformen, in denen biochemische Körpereigenschaften bei der natürlichen Selektion eine größere Rolle spielten.
Neben diesem genetischen Grund gibt es noch einen zweiten, der eine mögliche Erklärung dafür liefert, warum die Neuguineer der Gegenwart vielleicht intelligenter sind als die Menschen westlicher Prägung. Amerikanische und europäische Kinder verbringen heutzutage einen großen Teil ihrer Zeit mit passiver Unterhaltung wie Fernsehen, Radio oder Kino. In amerikanischen Durchschnitts haushalten läuft der Fernseher sieben Stunden am Tag. Demgegenüber haben Kinder in Neuguinea, die in traditionellen Verhältnissen aufwachsen, praktisch keine Gelegenheit zu passiver Unterhaltung. Sie beschäftigen sich statt dessen meist von früh bis spät auf die eine oder andere Weise aktiv, beispielsweise durch Gespräche oder Spiele mit anderen Kindern oder Erwachsenen. In fast allen Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung wird die besondere Bedeutung von Stimulation und Aktivität als Voraussetzung der geistigen Entfaltung hervorgehoben, während zugleich auf die irreversible geistige Verkümmerung hingewiesen wird, die das Ergebnis ungenügender Stimulation sein kann. Wir haben es hier also mit einem nichtgenetischen Faktor zu tun, der mit zu der überlegenen Geisteskraft des durchschnittlichen Neuguineers beiträgt.
In ihren geistigen Fähigkeiten sind die Neuguineer den westlichen Menschen demnach genetisch wahrscheinlich überlegen und in dem Sinne, daß sie der verheerenden entwicklungspsychologischen Benachteiligung entgehen, der die meisten Kinder in den Industrie gesellschaft en heute ausgesetzt sind, ganz gewiß. Mit Sicherheit spricht jedenfalls nichts für eine intellektuelle Unterlegenheit der Neuguineer, die Yalis Frage ja weitgehend beantwortet hätte. Die beiden genannten Faktoren, der genetische und der entwicklungspsychologische, dürft en nicht nur speziell die Bewohner Neuguineas von denen der westlichen Industriegesellschaft en unterscheiden, sondern ganz allgemein Jäger und Sammler sowie andere Mitglieder technisch primitiver von Angehörigen technisch fortgeschrittener Gesellschaft en. Damit wäre die übliche rassistische These auf den Kopf gestellt. Wie kommt es, daß die Europäer trotz ihrer genetischen Unterlegenheit und ihrer (seit einiger Zeit) unbestreitbaren entwicklungspsychologischen Benachteiligung so viel mehr materielle Güter besitzen? Warum blieben die Neuguineer trotz ihrer, wie ich glaube, überlegenen Intelligenz technisch auf primitivem Stand?
Mögliche Antworten auf Yalis Frage kommen nicht nur von der Genetik. Ein besonders bei den Bewohnern Nordeuropas beliebter Erklärungsansatz hebt die vermeintliche Stimulationswirkung des kühlen nordischen Klimas hervor, dem der angeblich negative Einfluß des feuchtheißen Tropenklimas auf Kreativität und Energie gegenübergestellt wird. Vielleicht stellen die jahreszeitlichen Klima schwankungen in nördlichen Regionen ja vielfältigere Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, als das im Jahresverlauf schwankungsarme Tropenklima. Vielleicht ist auch mehr technischer Erfindungsreichtum gefragt, um in kalten Klimazonen zu bestehen, da man sich mit warmer Kleidung und Behausung gegen die Kälte wappnen muß, während in den Tropen einfachere Behausungen und das Adamskostüm genügen. Man kann das Argument auch umdrehen und zu dem gleichen Schluß gelangen: Die langen Winter im hohen Norden lassen den Menschen viel Zeit, um im Warmen zu sitzen und Erfindungen auszubrüten.
Dieses früher vielzitierte Erklärungsmuster hält einer genauen Prüfung ebenfalls nicht stand. Wie wir sehen werden, leisteten die Völker Nordeuropas in dem Zeitraum bis vor etwa tausend Jahren keinerlei fundamentale Beiträge zur eurasischen Zivilisation. Sie konnten sich glücklich wähnen, in einem geographischen Raum zu leben, wo ihnen Erfindungen (wie Landwirtschaft, Rad, Schrift, Metallurgie) aus wärmeren Teilen Eurasiens mehr oder weniger in den Schoß fielen. In der Neuen Welt waren die kalten Regionen im hohen Norden technisch und kulturell noch rückständiger. Die einzigen Indianerkulturen, in denen die Schrift erfunden wurde, lagen in Mexiko südlich vom Wendekreis des Krebses. Die älteste Keramik der Neuen Welt stammt aus einem Gebiet in Äquatornähe im tropischen
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