Armageddon 06 - Der nackte Gott
Grund, warum ich nicht schon lange weg bin, ist die Tatsache, daß er ebenfalls nicht weiß, ob er soll oder nicht. Cricklade bedeutet ihm unheimlich viel. Er fürchtet den Gedanken, das Gut einen ganzen Winter lang allein zu lassen. Aber seine Töchter bedeuten ihm mehr. Ich glaube nicht, daß ich bei der Sache eine große Wahl habe.«
»Hör auf, bei mir nach Unterstützung zu suchen. Du hast immer eine Wahl. Was du dich selbst fragen solltest ist, ob du die Kraft hast, eine eigene Entscheidung zu treffen und hinterher durchzustehen.«
»Ich bezweifle es.«
»Hmmm.« Sie setzte sich auf den antiken Stuhl am Fußende des Bettes und blickte die verzagte Gestalt vor sich an. Es gibt keine Grenze mehr, stellte sie fest. Sie verschmelzen miteinander. Nicht so schnell wie Olive und Véronique, aber unübersehbar. Noch ein paar Wochen, maximal zwei Monate, und sie sind eins. »Hast du darüber nachgedacht, ob du nicht auch die Mädchen finden möchtest? Damit fängt dein Problem nämlich an.«
Er musterte sie mit einem überraschten Blick. »Was meinst du damit?«
»All dieser plötzliche Anstand, den Grants verschlagener Verstand bei dir zum Vorschein bringt. Du hast noch nichts davon verloren; du verspürst immer noch Schuldgefühle wegen Louise und dem, was du ihr anzutun versucht hast. Du würdest ebenfalls gerne wissen, ob sie wohlauf ist.«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich kann nicht mehr richtig denken. Jedesmal, wenn ich etwas sage, muß ich genau auf meine Worte hören, um herauszufinden, welche von mir und welche von ihm sind. Es gibt immer noch einen Unterschied, wenn auch marginal.«
»Ich neige zum Fatalismus. Ich denke, wenn Norfolk erst in ein paar Jahrzehnten gerettet wird, stirbst du vorher hier. Also warum gibst du nicht einfach nach und verbringst deine Zeit in innerem Frieden?«
»Weil ich diese Zeit verleben will!« flüsterte er wild entschlossen. »Ich, nicht er!«
»Das ist sehr egoistisch für jemanden, der in einem gestohlenen Körper lebt.«
»Du hast uns immer gehaßt, nicht wahr?«
»Ich habe gehaßt, was ihr getan habt. Ich hasse euch nicht für das, was ihr seid. Luca Comar und ich wären wahrscheinlich ziemlich gut miteinander zurechtgekommen, wenn wir uns jemals begegnet wären, meinst du nicht auch?«
»Ja. Stimmt.«
»Du kannst nicht gewinnen, Luca. Er wird bei dir sein, solange du lebst.«
»Ich werde nicht aufgeben.«
»Hätte Luca Comar den Marodeur Spanton tatsächlich getötet? Grant Kavanagh hätte es getan, ohne einen Augenblick zu zögern.«
»Du verstehst das nicht. Spanton war ein Wilder. Er hätte alles zerstört, was wir sind, alles, was wir hier mit unserer Arbeit erreicht haben. Ich habe es in seinem Herzen gesehen, ganz deutlich. Mit Leuten wie ihm kann man nicht reden. Man kann sie nicht erziehen.«
»Warum willst du etwas erreichen, Luca? Es ist durchaus möglich, von dem zu leben, was das Land uns gibt. Wir können das, wir Zigeuner. Selbst Grant könnte dir zeigen, wie es geht. Welche Pflanzen eßbar sind. Wo Schafe und Vieh sich im Winter zusammendrängen und Schutz suchen. Du könntest Jäger werden, von niemandem mehr abhängig.«
»Aber Menschen sind mehr als das. Wir sind eine soziale Spezies. Wir sammeln uns in Stämmen oder Clans, wir handeln. Das ist die Grundlage unserer gesamten Zivilisation.«
»Du bist tot, Luca! Du bist vor Hunderten von Jahren gestorben. Diese Rückkehr hier ist nur vorübergehend, ganz gleich, wie es endet: ob du vorher stirbst oder die Konföderation Norfolk zurückholt. Warum willst du unter diesen Umständen eine behagliche Zivilisation errichten? Warum willst du nicht im Heute leben und aufhören, an das Morgen zu denken?«
»Weil ich nicht so bin! Ich kann das einfach nicht!«
»Wer kann das nicht? Wer von euch beiden ist es, der sich eine Zukunft erträumt?«
»Ich weiß es nicht!« Er fing an zu schluchzen. »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.«
Dieser Tage arbeitete nicht mehr ganz so viel Personal im taktischen Einsatzzimmer von Fort Forward, ein Barometer des Fortschritts der Befreiungskampagne und der allgemeinen Stimmung. Die massiven Koordinationsanstrengungen für den ersten Angriff waren längst obsolet. Danach hatte es nur noch einmal eine hektische Zeit gegeben, nach dem katastrophalen Angriff auf Ketton, als sie den Verlauf der Frontlinien und die Vormarschrichtung ändern mußten, um Mortonridge in Einschließungszonen zu unterteilen. Es war eine Strategie, die bis jetzt einigermaßen
Weitere Kostenlose Bücher