"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
voller unbegrenzter neuer Möglichkeiten. Ich habe das Gefühl, in eine für mich neue Welt zu blicken – zumindest ein Zipfelchen davon zu erahnen, und ich finde es aufregend.
Nachmittags lege ich mich mit dem Bildnis des Dorian Gray in den Liegestuhl im Garten. Ich habe Oscar Wilde als Startlektüre gewählt, weil ich das Buch vor fast 30 Jahren in der Schule gelesen habe und fasziniert war. Es zieht mich auch jetzt wieder in seinen Bann. Ein Glas Weißwein würde die Situation krönen, aber ich bin auch so ganz zufrieden und entspannt und schlafe in der Sonne ein. Abends wärme ich den Rest meines Hühnercurrys auf – bin erneut ziemlich begeistert –, räume die Küche auf, schreibe noch eine Mail an einen verschollenen Freund, suche die Kleidung für den nächsten Morgen heraus, packe meine Sporttasche. Dann setze ich mich mit Jamie Oliver an den Tisch, suche mir für die kommende Woche sieben Rezepte aus, schreibe die Zutaten heraus und gehe früh ins Bett. Kein schlechter Tag.
Tag 2 – Was soll das?
Von wegen Sport wird mit jedem Mal leichter. Schon an meinem ersten Gerät an diesem Montagmorgen um sechs
Uhr hätte ich weinen können. Nach der Proberunde am Samstag hat der Trainer ein Programm für mich zusammengestellt. Mit denselben Gewichten, aber das kann ich kaum glauben. Ich fühlte mich wie Brei, der nur durch Haut zusammengehalten wird, und wie soll ein Pudding irgendwas stemmen? Aber mein Stolz ist zu groß, um dieses »moderate Einstiegsprogramm« abzubrechen. Als ich anderthalb Stunde später den Schweiß abdusche, fühle ich tatsächlich so etwas wie Glück. Dass es vollbracht ist. Morgen früh muss ich aber schon wieder hier sein. Tausend Meter schwimmen. Und übermorgen wieder Kraftstudio und Rudermaschine. 27 Tage lang geht das jetzt Morgen für Morgen so weiter. Ich bin gespannt, wann ich erste Erfolge spüren werde. Ich werde heute nicht rauchen, da bin ich sicher.
Im Büro kann ich nur mit Mühe die Augen aufhalten über einem Artikel aus dem Independent. Es soll heimliche Truppenabzugspläne aus dem Irak geben und ich soll einschätzen, wie realistisch das ist. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, so fahrig und unkonzentriert bin ich. Müde bis zum Umfallen und zugleich aggressiv und gereizt. Ich kenne die Symptome: Ich brauche dringend einen Kaffee! Ich hätte nicht gedacht, dass mir ausgerechnet Koffein so fehlen würde. Dass ich es so sehr brauche, um zu funktionieren. Ich bin ein Zombie, ein Unwacher ohne Kaffee. Übellaunig und mit heftigen Kopfschmerzen. Ich werde mir gut überlegen, warum ich das beschließe, und es später nicht mehr infrage stellen. Das sagt sich so schön, wenn man bei einem Glas Wein plant, Supermann zu werden. Aber wenn sich später vernünftige Gründe
ergeben, sollte man einen Plan doch auch ändern können. Alles in allem wäre mir doch mehr gedient, wenn ich mir eine Tasse Morgenkaffee erlaube. Das ist nicht mal ungesund. »Verarsch mich nicht, Senzel«, raunzt der Drillsergeant. »Du hast den Wisch unterschrieben. Halt dich dran oder geh zurück nach Bad Warmdusch oder Weicheihausen. «
Am Nachmittag habe ich einen Interviewtermin mit Boris Johnson. Damals konservativer Oppositionsabgeordneter – später Londoner Bürgermeister. Mein Magen grummelt ein wenig, weil ich auf Koffein- und Nikotinentzug vier Äpfel, eine Packung Reiscracker und eine halbe Tüte Trockenfrüchte mit etwa anderthalb Liter Ingwertee heruntergespült habe. Ich hätte nicht alles, aber doch sehr viel gegeben für einen Schoko-Muffin. Ich kämpfe mit dem Schlaf, während ich in Johnsons Vorzimmer warte. Grüble an Fragen und wie ich sie formuliere und denke an Cappuccino und Himbertörtchen.
Und dann kommt Johnson mit seinem wirren Blondschopf durch die Tür geschossen und dröhnt: »Vielleicht sollten wir dem deutschen Reporter lieber ein Bett bringen lassen.« Seine Lache ist wirklich unglaublich. Er sei mal Finanzberater gewesen, erzählt er, aber beim Bilanzlesen regelmäsßig eingeschlafen. Er war außerdem Verleger, Fernsehtalkshowmeister und reicher Erbe. Er ist ein brillanter Geschichtenerzähler, seine Anekdoten sind amüsant, seine politischen Parabeln geistreich, seine Ideen originell. Unausgegoren, sagen Kritiker. Er hat keine Ahnung von Politik, aber eine Menge Spaß. Vor allem kann er herzhaft über sich selbst lachen, und Humor
wiegt in England eine Menge auf. Man muss sich nur mal im Unterhaus anschauen, wie da die Abgeordneten johlen und pfeifen,
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