"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Schweinehund im Reinen
Gibt es etwas Schöneres, als mit sich selbst und seinem inneren Schweinehund im Reinen in der Sonne zu liegen und ein gutes Buch zu lesen?
Ich fühle mich mit mir und meinem inneren Schweinehund im Reinen und liege entspannt mit dem Bildnis des Dorian Gray im Garten. Versinke in dieser aberwitzigen Geschichte vom Verkauf der Seele für ewige Jugend. Der Geruch von Sonne auf nackter Haut – welch köstliches Kindheitsgefühl löst das aus. Sommerknie. Die erste Ahnung von Sinnlichkeit. Ganz weg zu sein in der Welt des Buches, bis zum Ende. Es mit einem leicht wehmütigen Seufzer, aber sehr befriedigt zuklappen, während die Gedanken immer noch darin verweilen. Dann in die Küche gehen und das Abendessen vorbereiten: Caponata – sizilianischen Aubergineneintopf. »Jamie Olivers Italien«, mein zweites Kochbuch. Ein Brite zeigt mir die italienische Küche. Prallviolette Auberginen in Stücke schneiden, mit Oregano in der Pfanne gelbbraun braten. Tiefrote Fleischtomaten stückeln und dazugeben, würzige Petersilie, Oliven, Kapern, ein Schuss Balsamico – meine Güte, wie das duftet. Jamie Oliver empfiehlt zur Caponata einen leichten Bordeaux.
Genüsse verschieben sich, wenn es keine Schokolade gibt. Wenn du deine Lust auf Süßes mit Obst befriedigen musst. Und dann mal so ganz bewusst der fruchtigen Süße eines Pfirsichs nachschmeckst. Welch ein Genuss und eine Geschmacksexplosion das ist. Jedenfalls wenn du keine Schokolade hast, sonst lässt du natürlich den
Pfirsich liegen. Ich kann sogar schon die Geschmäcker von Apfelsorten unterscheiden. Die kühle Frische von klarem Wasser genießen. Klar, wenn’s keinen Wein gibt. Aber auch wenn ich die Freude an solchen kleinen Dingen eher erzwungenermaßen entdecke – es fühlt sich einfach saugut an. So leicht und so rein.
Oft habe ich überraschend Freude gefunden an Dingen, zu denen ich vorher überhaupt keine Lust hatte. Manchmal muss man sich zu neuen Erfahrungen auch zwingen, die man sich zuvor durch Trägheit und Angst verschlossen hat
Tag 6 – Zum Sechsten
Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Londoner U-Bahn versuche, Marcel Proust zu lesen, verzweifele ich regelmäßig an Sätzen, die in Hampstead beginnen und in Tottenham Court Road noch immer nicht zu Ende sind, und wenn ich abends auf dem Heimweg erneut mein Buch zur Hand nehme, dann wird mir oft erst nach vier Stationen klar, dass ich genau diesen Satz heute schon einmal begonnen habe und dass ich es bis zu meiner Endstation auf keinen Fall schaffen werde, bis zu seinem Punkt zu gelangen. Das waren jetzt zehn Zeilen! Proust bringt es locker auf 23 Zeilen pro Satz. Aber Proust steht nun mal auf meiner Bücherliste. Titel, an die ich mich dunkel aus meiner Schulzeit erinnere, Autoren, die kluge Menschen immer mal wieder zitieren. Jeder »Arschtritt«-Bereich hat sein Motto aus Omas Sprüchekiste. Das Motto auf dem Kulturordner lautet: »Was Hänschen nicht lernt, kann Hans immer noch lernen.« Das ist ein bisschen
sauertöpfisch, aber das war Kultur für mich irgendwie immer. Mit pedantischer Selbstüberwindung quäle ich mich durch halbseitige Bandwurmsätze, auf der Suche nach der tieferen Wahrheit hinter Befindlichkeitsschilderungen einer überdrüssigen Pariser Oberschicht im 19. Jahrhundert. Kein Vergnügen, sondern harte Arbeit. Wie eine neue Fremdsprache: Mühsam Vokabel um Vokabel lernend in der Hoffnung, eines Tages genauso leichthin plaudern zu können. Nach meinem Anfangserfolg mit Oscar Wilde empfinde ich Proust als Rückschlag: Über Das Bildnis des Dorian Gray habe ich letzte Woche das Aussteigen verpasst und den Roman anschließend an einem Nachmittag verschlungen. Aber jede große Entdeckungsreise hat ihre Hindernisse und bergige Strecken. Und Proust ist nur eine Hürde von vielen auf dieser Expedition zu mir selbst bei meiner Großoffensive gegen den inneren Schweinehund. Draußen herrscht immer noch schönstes Weißweinwetter. Ein milder – nicht mehr zu heißer – Sommer-Spätnachmittag. Vor den Cafés und Bars sitzen die Menschen fröhlich plaudernd und lachend. Ich würde mich gerne dazusetzen und mir wohlig das Gesicht bescheinen lassen. Aber ich wäre jetzt nicht stark genug, Mineralwasser zu bestellen. »Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung«, heißt es bei Oscar Wilde. Also gehe ich ihr aus dem Weg – und nach Hause. Durchaus mit wehmütigem Bedauern, aber auch verdammt stolz, dass ich mal wieder stark gewesen bin.
Fünf Tage am
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