"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
als Allerletzter in die Völkerballmannschaft gewählt wurde. So von wegen: »Wenn ihr Holger nehmt, nehmen wir dafür die beiden (dicken) Mädchen.« Aber gut, Marc ist Brite, und die sind höflich, selbst wenn sie einen quälen. Wahrscheinlich haben sie das damals in den Kolonien auch so gemacht: »Entschuldigen Sie vielmals die Umstände, aber wir müssen Sie jetzt leider vor eine Kanone binden.«
Danach taumele ich ins Schwimmbad. Ich bin mal eine Zeit lang jeden Morgen 1000 Meter geschwommen – in einer früheren Gesundheitsphase, die wie alle anderen mit einem großartigen Plan begann und irgendwann einfach versandete. Ich bin schon nach drei Bahnen kurz vor dem Ertrinken. Froh, dass ich 500 Meter schaffe, mit Ach und Krach und allen drillsergeantmäßigen Anfeuerungen. Mit weichen Knien und komplett außer Atem schleppe ich mich unter die Dusche, kleide mich an – heilfroh, dass ich es hinter mir habe. Starke Leistung! Alle Achtung! Fühlt sich gut an. Gleichzeitig graut mir schon vor dem nächsten Mal.
Es ist gerade mal kurz nach elf an einem Samstagmorgen, ich habe das Schlimmste für heute hinter und den ganzen Tag noch vor mir. Gierig sauge ich den Duft aus einem Starbucks-Coffeeshop in mich hinein – beinahe wahnsinnig vor Verlangen nach einem großen, starken Cappuccino mit Milchschaum und Kakaopulver. Das Bild verfolgt mich bis zur Tottenham Court Road. Ob ich wohl jemals das gleiche Verlangen nach einem Kräutertee verspüren werde? Es ist ein wunderschöner Sommermorgen – Menschen sitzen in Straßencafés vor ihren Espressi oder auch Weißweingläsern und rauchen.
Ich schlendere zu Fuß weiter Richtung Trafalgar Square zur National Gallery. Das Kultur-Event dieser Woche. Nicht wirklich originell, aber erst das Sport-Martyrium und dann noch Theater oder Oper, das wäre zu heftig. Ich versuche, mich in pflichtgemäßer Ehrfurcht zu üben, als ich durch die holzgetäfelten Hallen des palastartigen Museums gehe. Stehe vor Gemälden, die Leonardo da Vinci, Rembrandt oder Rubens vor Hunderten
von Jahren gemalt haben. Die Schlacht von Trafalgar erschlägt mich in gefühlter Originalgröße. Eine junge Frau mit Basedowaugen und Seidenkleid stiert mich von einer anderen Leinwand an. Typen in Pluderhosen und Rüschenhemden halten angeberisch Schwerter und anderen Glitzerkram hoch, barbusige Marien mit Jesuskindlein werden von pausbäckigen Engeln umkreist. Würde ich mir keins davon ins Wohnzimmer hängen wollen. Ich hake die Renaissance unter religiösem Schwulst ab und das Rokkoko unter Kitsch und erledige die Präraffaeliten in sieben Minuten. Dann fällt mein Blick auf ein Segelschiff im Morgennebel. Man sieht nur die schwarzen Umrisse im rot-gelben Farbenspiel des Sonnenaufgangs – auch der Dampfer, der es schleppt, ist nur angedeutet: der flache Rumpf mit dem hohen Schornstein und der Rauchfahne. Nelsons Schlachtschiff Temeraire wird zum Abwracken geschleppt. Eine Ära endet und eine neue Epoche beginnt mit der Dampfmaschine. Aber auch ohne den Begleittext hätte mich die melancholische wie zuversichtliche Stimmung berührt.
Und so verlasse ich die National Gallery am Ende doch nicht ganz missgestimmt, sondern mit William Turners Bild im Herzen. Ich habe mein Pensum für heute fast geschafft. Ein Kaffee wäre jetzt nett. Oder rauchen. Oder beides. Und danach in meinen Lieblingspub mit den staubigen Plüschsofas, den wackligen Tischen, dem groß gemusterten Teppich, der aussieht und riecht, als hätte Nelsons Großvater da schon sein Bier verschüttet, mit dem gemütlichen Gaskamin und den dicht gedrängten, lärmenden, lachenden fröhlichen Zechern an der Theke. Drei, vier Pints eiskaltes Bier trinken, fettige Fish & Chips
mit grasgrünen Erbsen essen, ein bisschen Small Talk mit dem Thekennachbarn über das Wetter, die Immobilien-preise. Sich von neu gewonnenen Freunden zu weiteren Pints einladen lassen – und sich dann revanchieren. Und schließlich selig und angetrunken nach Hause gehen und gemütlich vor der Glotze bei einer Spielshow in der BBC abhängen oder sich noch eine DVD aus der Videothek holen.
Auf das Kochen freue ich mich wirklich. Mit großer Lust und Vorfreude hacke ich jetzt Koriandergrün, schneide Hühnerbrust, zerstampfe Cashewnüsse und reibe Ingwer für das Hühnercurry. Es duftet fantastisch – und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, während die Mischung in der Pfanne vor sich hin köchelt. Es schmeckt auch fantastisch – und ich esse jeden Bissen mit Hingabe
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