"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Fernsehteams und Radioleute aus aller Welt in den verlassenen Redaktionsräumen eingerichtet. Sie hatten dort ihre Technik aufgebaut und ihre Generatoren und Lager mit Konserven und Zigaretten und deutschem Bier und Slibowitz, einem Zwetschgenbranntwein, gelagert. Den Schlafsack immer direkt unterm Fenster – nie an der gegenüberliegenden Wand. Da hatte man bei einem Granattreffer bessere Überlebenschancen. So hieß es, obwohl ich kaum glaube, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Viel mehr Angst hatte ich vor dem Gang zur Toilette. Es gab kein fließendes Wasser und der Fußboden war voller Kothaufen. Ich hätte lieber im Freien gepinkelt, aber da lauerten serbische Scharfschützen. Wir haben uns oft darüber lustig gemacht, was für ein blöder Tod das sei, mit heruntergelassener Hose zu sterben. Worüber Männer so lachen, wenn sie wochenlang zwangsweise zusammenhocken.
Wenn wir zu Interviews loszogen, trugen wir 18 Kilo schwere Schutzwesten mit Keramikplatten. »Warum soll jemand auf die Schutzweste zielen statt auf den Kopf?«, fragte ich mal. Na ja, weil Scharfschützen eben immer auf die Brust halten – größte Fläche, am einfachsten zu treffen. So hieß es. Die Schützen feuerten von den umliegenden Bergen mit weitreichenden Präzisionsgewehren in die Stadt. Snipers’ Alley – »Scharfschützen-Allee« nannte man dann auch die Hauptstraße von Sarajewo.
Dort rasten die wenigen Autos – meist gepanzerte Jeeps der UNO, von Hilfsorganisationen oder Medien – mit 80 Sachen im Zickzack, um kein Ziel zu bieten. An Kreuzungen warnten Schilder »pazi-snajper« – Vorsicht, Heckenschützen! Kinder rannten über die Straße und lachten und johlten, wenn die Geschosse hinter ihnen in den Asphalt schlugen. Das lebensgefährliche Kinderspiel bot mir einen guten Einstieg für eine Reportage aus Sarajevo. Es war weit weg – auch wenn ich mittendrin steckte.
Die Stadt war seit einem Jahr belagert, die Menschen froren, verheizten ihre Möbel und aßen Graswurzeln. Ich war mit einer Militärmaschine in die Stadt geflogen. Am Flughafen hatte die UNO einen Shuttle-Service in die Stadt installiert. So richtig mit Haltestelle und Fahrplan – nur kam kein Bus, sondern ein weiß lackierter Panzer. Meine Tasche war vollgepackt mit Konserven, Zigaretten, Schokolade, deutschem Bier – alles, was die Fernsehkollegen in Sarajevo bestellt hatten. Dabei konnten wir mit unserem Presseausweis sogar aus der Stadt rausfahren. Die Serben verkauften uns gern Lebensmittel und Schnaps gegen Deutsche Mark. Aber sie hatten ja selbst nicht viel. Frische Forellen gab es direkt aus dem Teich. Man drückte einem Soldaten zehn D-Mark in die Hand, dann ballerte der mit seiner Kalaschnikow ins Wasser, bis die Fische oben trieben. Und abends brieten wir die auf unserem Kocher und erzählten von vergangenen Einsätzen in anderen Kriegen in anderen Ländern. Andächtig lauschte ich den Geschichten der alten Hasen. Den Reporterlegenden von CNN oder BBC und dem deutschen Fernsehen, manche waren schon seit dem Vietnamkrieg in sämtlichen Krisenherden der Welt unterwegs – meine
Helden. Aber mit wachsender Betrunkenheit wurden solche Abende immer sentimentaler und weinerlicher. Zerrüttete Ehen, entfremdete Kinder, abgerissene Wurzeln. Gegrillter Fisch, Bier, Slibowitz, gute Gespräche – Männer im Krieg.
Jeden Morgen um zehn begann der Beschuss der serbischen Artillerie. Pünktlich wie die Maurer. Ich habe mich anfangs sehr gewundert, warum es dabei jedes Mal so viele Tote gab, weil das Bombardement doch so vorhersehbar war. Aber niemand konnte es sich leisten, im Keller zu bleiben – die Menschen waren unterwegs, um Nahrungsmittel oder Brennholz oder sonst etwas Lebensnotwendiges zu beschaffen. Viele Alte und Kinder starben – an Hunger oder Kälte oder Infektionen, weil es keine Medikamente gab. »Was ist das für ein Gefühl, in einer belagerten Stadt zu leben?«, fragte mich einmal der Moderator der Frühsendung. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich, »denn ich kann hier ja wieder weg.«
Die Ägypter fuhren mich mit ihrem weißen Panzer zum Flughafen; die Kanadier flogen mich aus der Stadt heraus. Die UNO hatte alles genau aufgeteilt, die Bürokratie funktionierte tadellos. Norweger kontrollierten die Pässe. Verteilten selbst gebastelte Stempel: »Maybe-Airlines«. Wir wollten alle so einen. Ich habe den Pass heute noch. Ebenso das gelbe T-Shirt vom Fitnessclub Sarajevo: I’m still alive … Souvenirs großer Abenteuer,
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