"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
rechtzeitigen Aufbruch verpasst und mussten die nächsten zwei Stunden hier im Keller verbringen, mindestens. Weitere Schläge, flackerndes Licht, einige beteten laut, Kinder weinten. Ich zuckte bei jedem Einschlag zusammen. Der Arzt lachte: »Das ist noch ganz weit weg – die müssen heute wirklich total besoffen sein.« Dann öffnete er eine Flasche Slibowitz. Wir tranken. Ärzte und Sanis unterhielten sich auf Kroatisch, machten Witze, lachten. Ich schaltete das Mikrofon ein, um Geräusche aufzunehmen. Damit unterlegte ich dann Teile des Textes, um die Atmosphäre rüberzubringen. Aber man wird nichts riechen können auf dem Band, dachte ich mir. Eine mächtige Explosion ließ den Keller beben, Putz rieselte von der Decke – ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien.
Die Neonröhren flackerten wieder und erloschen dann ganz – es war stockfinster. Und wieder rummste es, und noch mal und noch mal und noch mal und hörte nicht mehr auf – ich hatte nur noch Angst. Feuerzeuge gingen an, Kerzen, Kommandostimmen hallten durch die Gänge, Flüche, offenbar bekamen sie den Generator nicht in Gang. Aus dem OP erklang eine wütende Stimme, entsetzliche Schreie – es war nicht auszumachen, ob von Frau oder Mann, ganz hoch und durchdringend. Männer eilten mit Taschenlampen durch die Tür. Und noch ein Einschlag und noch einer und ich fragte mich, wann den Serben endlich die Munition ausging. Ich kauerte in einer Ecke auf dem Boden und klammerte den Blick an meinen Begleiter von der Caritas, der im Schein einer Taschenlampe mit dem Arzt seelenruhig Listen erstellte mit Dingen, die hier gebraucht wurden. So gefährlich konnte es ja nicht sein, wenn die so ruhig dastanden.
Nach zwei Stunden hörte der Beschuss genauso unvermittelt auf, wie er begonnen hatte. Wie bei einem Feuerwerk. Es gab noch den einen oder anderen Nachzügler, dann war es still. Bis auf das Stöhnen, das Schreien und Wimmern. Draußen war es noch hell, ich atmete gierig die frische Luft, als wir endlich aus unserem Bunker herauskommen konnten. Und dann waren wir auch schon wieder unterwegs im gepanzerten Landrover mit den Aufklebern von Caritas und Österreichischem Rundfunk und Menschen in Not. Peter saß entspannt auf dem Beifahrersitz und ging seine Listen durch. Er überlegte laut, welche Firma billig Konserven liefern könnte – oder besser noch umsonst. Vielleicht solche mit Dellen, die sie nicht mehr verkaufen konnten. »Mit dem großen Lkw
kommen wir da wohl nicht hin?«, fragte er mehr sich selbst, und der Fahrer verneinte. Aber Peter kannte den Chef einer großen Autovermietung, da bekam er die Siebeneinhalbtonner günstig …
Helfen macht glücklich
In Interviews ist Peter immer sehr pathetisch, spricht gern von den großen Kinderaugen und Kindern, die keine Schokolade kennen und noch nie eine Schulbank gedrückt haben, aber eine Kalaschnikow auseinandernehmen können. In seinen Einsätzen ist er völlig pragmatisch und unemotional. Da geht es nur um Tonnage und Logistik und wie er verhindern kann, dass die Milizen sich an seinen Hilfsgütern vergreifen. Verhandeln mit leeren Händen – nennt er seine Methode. Erst wenn er von den zuständigen Kommandeuren freies Geleit garantiert bekommt, schickt er die Lastwagen los. Ständig treibt er zur Eile an, morgens um sechs taucht er in Suppenküchen auf, organisiert Nähmaschinen für arbeitslose Frauen in einem Dorf und Baumaterial für Notunterkünfte und verhandelt abends mit einem englischen Offizier darüber, ob deren Panzereinheit unseren Transport durch eine gefährliche Bergstrecke begleiten kann.
Ich habe Peter nie schlecht gelaunt erlebt. Manchmal wütend, wenn die Dinge nicht liefen, wie er wollte, aber nie trübsinnig. Obwohl er permanent von Trübsinn umgeben war. Als ich ihn später einmal zu Hause in Kärnten besuchte, war ich überrascht und überwältigt. Er hat eine wirklich wundervolle, warmherzige, lustige Frau und ein Haus mit einem atemberaubenden Alpenblick. Peter ist begeisterter Bergsteiger und Angler und er könnte
hier seinen Ruhestand genießen – er ist immerhin schon 67. Aber in zwei Wochen fährt er mit zwei Siebeneinhalbtonnern wieder nach Slavonski Brod. Ich habe sein Engagement und seinen Einsatz für andere tief bewundert – weil ich selbst mich wohl kaum dauerhaft solchen Entbehrungen ausgesetzt hätte. Und als ich ihn eines Tages fragte, was ihn denn treibt, da sprach er nicht von Mitgefühl und Nächstenliebe und der Verpflichtung des
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