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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
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Murke mit dem Paternoster zum Studio fährt. Ich stelle mir ein düsteres Tonstudio der 50er-Jahre vor. Mit graublechernen Schaltschränken, armdicken Kabelbündeln in Steckfeldern, kreisrunden Armaturen und dicken, schwarzen Bakelitschaltern. Eine Sendung des berühmten Kulturkritikers Bur-Malottke liegt auf dem Tonbandteller. Aus dem gesamten Essay muss das Wort »Gott« herausgeschnitten werden. Und Bur-Malottke sagt oft »Gott«. Aber dann sind ihm Zweifel gekommen, und deshalb muss »Gott« ersetzt werden durch »jenes höhere Wesen, das wir verehren«. Das muss da nun reingeschnitten werden, weil Bur-Malottke sich weigert, den gesamten Vortrag neu zu sprechen. Und Bur-Malottke ist ein Freund des Intendanten. Endlich hat es Dr. Murke geschafft und betritt das Büro seines Chefs, um Vollzug zu
melden. Rumkoke übergibt ihm im Auftrag der Unterhaltungsabteilung ein Stückchen Tonband, so ein Schnipselchen von vier, fünf Zentimetern braunes Magnetofonband, und will wissen, was es damit auf sich hat …
    »Ich sammle«, antwortet Murke verlegen, »eine bestimmte Art von Resten. Schweigen. Ich sammle Schweigen. (…) Ich klebe sie aneinander und spiel sie mir abends vor, wenn ich zu Hause bin. Es ist noch nicht viel, ich habe erst ein paar Minuten, aber es wird ja auch nicht viel geschwiegen …«
     
    Im Nachbarhaus übt dieses schrecklich unmusikalische Kind wieder Klavier. Immer wieder den Flohwalzer. Der andere Nachbar sitzt mit seiner Frau vor dem Fernseher. Sie unterhalten sich dabei, eine Flasche wird auf den Tisch gestellt. Mein Küchenfenster klirrt, wenn draußen ein Bus oder Lkw vorbeifährt. Die Polizeiautos haben eine tieftönendere Sirene als die Ambulanzen. Die Minuten flappen so dahin in der Uhr auf dem Sims. Dort steht so ein uraltes orangefarbenes Teil, bei dem die weißen Felder mit den Ziffern jede Minute mit einem leisen »Flapp« weiterrücken. Alle zehn Sekunden sind das zwei Ziffernfelder, beim Stundenwechsel drei oder vier. Mit etwas Übung müsste ich am Klang des Flappens die Zeit erraten können. Jedenfalls wenn ich lange genug hier sitzen bliebe. So also hört sich das Schweigen in meiner Londoner Wohnung an. Normalerweise vermeide ich Schweigen und schalte sofort Musik an oder den Fernseher ein, wenn ich nach Hause komme. Nicht weil mich die Gameshows und Krimis interessieren, aber weil da Leute reden und was tun und mich dabei sein lassen. Schweigen in meiner
Londoner Wohnung. Was da alles passiert! Das Schweigen im Büro dagegen klingt völlig anders. Wie wäre es mit drei Minuten Schweigen auf dem Boot vor meiner Insel? Tagsüber und nachts. Schweigen im Gericht, kurz vor der Urteilsverkündung. Und das kann ich dann tauschen gegen Promischweigen. Angela Merkel schweigt mit Sicherheit anders als Guido Westerwelle oder Boris Becker. Schweigen im Büro meines Chefs, Schweigen mit einem guten Kumpel beim Bier. Schweigen nach einem Streit, Schweigen nach dem Sex. In den innigsten und tiefsten Momenten des Lebens wird immer geschwiegen, vielleicht quatsche ich deshalb so viel. Bei mir wäre Murkes Ausbeute mager, Gesprächspausen beunruhigen mich, deshalb fülle ich sie vorsorglich.
    In den innigsten und tiefsten Momenten des Lebens wird immer geschwiegen.
    Ich könnte stundenlang hier sitzen bleiben und dem Schweigen zuhören. Es ist ganz und gar nicht bedrückend, es ist sehr viel Leben darin und ich mittendrin. Das unbegabte Kind im Nachbarhaus hat endlich mit dem Flohwalzer aufgehört, jetzt sitzt die Familie drüben in der Küche beim Abendbrot. Ein Paar mit Kindern und der alten Mutter wohnt da, drei Generationen unter einem Dach. Ein Mann läuft am Haus vorbei, er singt aus tiefstem Herzen und mit wunderschöner Stimme – seine selbstvergessene Inbrunst lässt mich lächeln. Tiefer Frieden senkt sich über mein Gemüt, ich bin glücklich. Ich tue nichts, sage nichts – ich bin. Jetzt, hier, in diesem Moment. Es ist einer dieser Augenblicke, von denen du im
selben Augenblick spürst, dass du einmal wehmütig an ihn zurückdenken wirst. So wie neulich, als mein Sohn neben mir im Bett lag und ich seine Hand in der meinen spürte. Glück und das Bewusstsein für die Kostbarkeit dieses Moments, weil die Zeit ihrem Ende entgegengeht, in der mein Sohn Händchen haltend mit Papa im Bett liegt. Auch das war ein ganz besonderes Schweigen. Ich bewahre es sorgsam in der kleinen Blechschachtel meines Herzens auf. So wie das Schweigen dieses Abends in meiner Londoner Wohnung.
    Tag 27 – Den

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