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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Senzel
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Geist aufgeben?
    Ich sitze auf der Betontreppe einer Tankstelle, rauche und empfinde grimmige Befriedigung darüber, gegen all meine Beschlüsse zu verstoßen und dem Drillsergeanten zu bedeuten, dass er mich gerade mal kann. Von der ersten Zigarette wurde mir noch schwindelig, aber inzwischen schmeckt es mir wieder. Die Schachtel ist schon halb leer, mein Mund trocken, und ich hole mir in der Tanke einen scheußlichen Kaffee und einen Schokoriegel. Ich habe gerade eine großartige Story versemmelt. Das ist – wenn ich mich selbst ernst nehme – kein Grund, sich gehen zu lassen. Denn wie ich bereits mehrfach bemerkt habe, macht es das um keinen Deut besser. Aber das ist mir gerade völlig egal. Ich bin fassungslos, wütend und niedergeschlagen darüber, wie das so schieflaufen konnte.
    Ich wollte heute nach Edinburgh fliegen, um dort den Wissenschaftler Ian Wilmut zu interviewen. Wilmut galt als einer der Väter des Klonschafs Dolly. Er hat letztes Jahr von der britischen Zulassungsbehörde die Lizenz zum Klonen menschlicher Embryonen bekommen. Er
will Therapien gegen Nervenleiden entwickeln. Eine schillernde, kontroverse Persönlichkeit – und ein hochaktuelles, hochemotionales Thema. Ein Interview mit Ian Wilmut ist eine kleine Sensation – er gibt nur selten welche seit jenem Skandal, als er zugeben musste, dass in Wahrheit sein Kollege das Genschaf Dolly geschaffen hat. Ich habe mich wochenlang um diesen Termin bemüht, es gab umfangreichen E-Mail-Verkehr, in dem ich von Seriosität und Sachlichkeit und Wichtigkeit schrieb und dass die ARD Deutschlands BBC ist, um jeden Verdacht zu zerstreuen, dass ich auch wieder so ein Sensationsreporter bin, der den Mann, der Gott versucht, in Frankensteins Hexenküche in die Pfanne hauen will. Am Ende bekomme ich das Interview.
    Ich nehme die erste U-Bahn um 5.30 Uhr. Man muss in London eine Menge Spielraum einplanen. Allerdings verpasse ich die Lautsprecherdurchsage, dass der U-Bahn-Zug auf eine andere Strecke umgeleitet wird. Endstation. Das war’s – line suspended. Also Taxi. Keine Staus auf der M 5, der Fahrer drückt auf die Tube, ich entspanne mich. In zehn Minuten sind wir am Flughafen, immer noch jede Menge Zeit … Und dann werden wir plötzlich ganz langsam und schwarzer Rauch qillt aus der Motorhaube. Das lädierte Taxi schafft es im Kriechgang auf dem Standstreifen bis zu dieser Autobahntankstelle. 8.16 Uhr, mein Flugzeug nach Edinburgh dürfte sich in diesem Moment in den englischen Himmel erheben. Ich könnte die Maschine zwei Stunden später bekommen, kündige in Wilmuts Büro meine Verspätung an – und habe das Rennen endgültig verloren: Der Professor fliege leider am Nachmittag zu einem Kongress in
die Staaten und in den kommenden Wochen sähe es ganz schlecht aus, sie bedauern das aufrichtig …
    Einen Tag vor dem Ziel haue ich mein neues Leben in die Grütze. Das ist schwach!
    Nächstes Jahr kann ich vielleicht darüber lachen. Dass der Motor des Taxis »gave up it’s ghost.« Lustig, dass es diese Redewendung auch im Englischen gibt. Nächstes Jahr wird es eine weitere englische Alltagsgeschichte sein. Aus einem Land, in dem nichts richtig funktioniert – nicht mal die Taxis. Aber heute nicht. Ich möchte mich in eine dunkle Ecke verkriechen und still vor mich hin weinen. Mein Leben, das ich in den letzten Wochen so fabelhaft neu geordnet habe, entgleitet mir gerade wieder. Einen Tag vor dem Ziel haue ich es in die Grütze. Das ist schwach! Ich vermisse Britta und betrachte die Trennung als persönliches Versagen. Und im Beruf verliere ich jetzt auch noch mein glückliches Händchen. Wer weiß, was morgen schiefgeht? Ich bin extrem dünnhäutig und zermartere mich ein bisschen mit Selbstvorwürfen, als ich endlich im Vorortzug nach London sitze. Ich hätte gestern fliegen und mir einen netten Abend in einem Edinburgher Hotel machen können. Ich bin kein Pechvogel, sondern ein unprofessioneller Dilettant. Mein Handy klingelt, als der Zug in den Kings-Cross-Bahnhof einfährt. Kein Redakteur, der sich nach der Wilmut-Story erkundigt, sondern ein Kollege, mit dem ich vor Urzeiten in Sarajevo war. Er sei gerade in London und würde mich gerne treffen. Das will ich auch. Sofort fühle ich mich in die Zeit als Kriegsreporter zurückversetzt.

Krieg und andere Probleme
    Eine ganz andere Welt
    In der Krajina – einer serbischen Enklave in Kroatien – bin ich während des Balkankrieges einmal von Milizen angehalten worden. Ich war in einem Mietwagen

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