"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Erinnerungen an vergangene Heldentaten. In Bologna ging es dann vom Militärflughafen mit dem Taxi zum besten Restaurant, kugelsichere Weste über der Schulter – ich kam mir sehr cool vor. All die Leckereien, von denen ich geträumt hatte, bestellen. Weiße Tischdecken, Kerzenlicht,
Silberbesteck, Blumenschmuck, sanfte Musik, Kellner, die Wein in polierte Kristallgläser nachgießen. Ein Paradies. Sich danach zufrieden und pappsatt in der Hotelbadewanne räkeln, sich auf blütenweiße, gestärkte Bettwäsche werfen … Oft dachte ich, dass ich diesen Job nur wegen dieser Momente mache. Für das Zurückkommen. Das war das Beste an den Kriseneinsätzen. Das war Glück. Sich so unsagbar reich zu fühlen …
Die ersten Tage in Deutschland waren nach einem Kriegseinsatz dagegen stets irritierend. Im Supermarkt die langen Regalmeter Tierfutter – Whiskas Senior und Chappi light … Diätfutter für fette Hunde. Ich dachte: Mann, das ist so absurd, wenn ich das Janosh in Sarajevo erzähle, wird er nur den Kopf schütteln. Und dann die Konferenzen im Funkhaus. Da stritten Leute allen Ernstes über 30 Sekunden, die eine Sendung zu lang war. Ich erzählte vom Krieg und der Hölle in Sarajevo – spannende Geschichten in der Kneipe, ganz weit weg von Angst, Ekel und Gestank. Ich dachte wehmütig an die feuchtfröhlichen, geselligen Abende in Sarajevo und die Ausflüge zum Forellenteich – und war froh, wenn ich wieder losfliegen durfte. Manchmal habe ich zwischen zwei Einsätzen den Koffer mit der Schmutzwäsche nicht mal ausgepackt – wozu gab’s denn Hotelwäschereien? Lange wohnte ich in einer scheußlich möblierten Wohnung, die ich »mein Suizidapartment« nannte, aber ich war ja sowieso selten zu Hause.
Je länger der Bürgerkrieg dauerte, je mehr die Menschen an die Nachrichten von täglich neuen Toten und Gräueltaten gewöhnt waren, desto schwerer wurde es für einen Reporter – Geschichten zu finden, die noch keiner
zuvor erzählt hatte. In einem Flüchtlingslager traf ich Peter Quendler, der eine außerordentlich erfolgreiche Hilfsaktion für den österreichischen Rundfunk ORF und die Caritas leitete. Zu diesem Zeitpunkt war er schon zwei Jahre lang auf dem Balkan unterwegs. Wollte nach Slavonski Brod, zu einem Krankenhaus direkt an der Front zwischen Kroatien und Bosnien. Das klang spannend – und so fuhr ich mit ihm. Wir kamen früh an, noch vor dem Beginn des Artilleriebeschusses – man konnte auch hier die Uhr danach stellen. Von elf bis gegen zwei Uhr mittags feuerten die serbischen Geschütze – dann waren die Kanoniere betrunken und hielten Mittagsschlaf. Gegen vier Uhr ging es dann noch einmal für zwei Stunden weiter. Es war ein unglaublich archaischer Krieg. Auf beiden Seiten erinnerten diese wilden, bärtigen Gesellen mit ihren Kalaschnikows und bunt zusammengewürfelten Kampfanzügen eher an Räuber als an disziplinierte Soldaten.
Das Krankenhaus von Slavonski Brod war eine Ruine. Das Dach teilweise eingestürzt, rußgeschwärzte Mauern mit leeren Fensterhöhlen. Auf dem Hof stand das von Kugeln zersiebte Wrack eines Krankenwagens – die Serben benutzten das Rote Kreuz als Ziel, hieß es. Ich habe keine Ahnung, ob es stimmte, alle Seiten erzählten in einem fort von den unglaublichen Gräueltaten der Gegenseite. Operations- und Behandlungsräume lagen im Keller. Männer, Frauen und auch Kinder lagen dicht an dicht in Eisenbetten und auf dem Fußboden, in blutige Verbände gehüllt. Ein Junge ohne Arme, ein Mädchen ohne Beine, Kopfverbände. Stöhnen, Weinen, Jammern, markerschütternde Schreie. Der Geruch von Blut, Keller,
Urin, Kot, Schweiß und feuchten Klamotten. Ein blutverschmiertes Plüschtier auf dem Boden, tote Körper im Flur, Haufen von Tüchern und zerrissene Uniformteile, alles braunrot von getrocknetem Blut. Die Finger einer Hand, die aus dem Eimer unter einem Tuch hervorschauen. Ein übermüdeter, unrasierter Arzt erzählte mit unbeteiligter Stimme von Amputationen ohne Narkose, von Infektionen, von Minen in Kinderspielzeugen und verstümmelten Neunjährigen. Ich interviewte ein Mädchen, das als Einzige einen Volltreffer in ihr Haus überlebt hatte. Sie hatte ein Bein verloren und war blind – und sie weinte in mein Mikrofon. Ich hätte mitheulen können und dachte zugleich, welch ein ergreifender Einstieg für einen Bericht das war.
Das Gebäude erzitterte unter einem dumpfen Schlag, die Neonröhren an der Decke flackerten. Wegen meiner Interviews hatten wir den
Weitere Kostenlose Bücher