"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Christenmenschen, sondern überraschte mich mit dem Satz: »Helfen macht glücklich!«
Ein Granateinschlag ließ den Keller beben, Putz rieselte von der Decke, die Neonröhren flackerten und erloschen dann ganz – es war stockfinster. Und wieder rummste es, und noch mal und noch mal und noch mal und hörte nicht mehr auf – ich hatte nur noch Angst.
Peter war es völlig egal, warum die Leute spendeten – und er hat sogar gnadenlos an ihre Eitelkeit appelliert. Für 700.000 Schilling (40.000 D-Mark) konnte er einen Lkw mit Standardbeladung auf den Weg schicken. Und wenn ein Verein oder eine Firma oder Stadt das allein aufbrachte, dann wurde ihr Name an den Lkw geklebt und es gab ein Foto in der Lokalzeitung und noch eins von der Ankunft »ihres« Lastwagens in irgendeinem gottverlassenen Kaff. Nachbar in Not war für die Österreicher fast eine nationale Aufgabe – sämtliche Politiker, Schauspieler und andere Promis des Landes riefen in Fernsehspots zu Spenden auf, aber auch der Papst, der UN-Generalsekretär und der US-Präsident Bill Clinton. Bei der großen Spendengala am Samstagabend gab es
eine Live-Schaltung zum Kloster in Mostar. Eine bosnische Opernsängerin sang in den Ruinen. Während das Ave Maria durch die rußgeschwärzten, zerschossenen Mauern hallte, waren im Hintergrund dumpfe Explosionen zu hören. Man musste einfach weinen. Peter wusste, wie man Herzen und Geldbeutel öffnet.
Nachbar in Not wurde zur größten privaten Hilfsaktion der Geschichte. 100 Millionen D-Mark waren erreicht, als sich der NDR anschloss. Menschen in Not hieß die Aktion im Norden. Ich bin immer noch überrascht, wie unbürokratisch das damals lief. Keine Sitzungen, keine Beschlüsse, bloß ein entschiedenes »Ja« des damaligen Direktors. Nicht so groß wie beim ORF, drei Redakteure waren es anfangs, die das Projekt trugen. Aber sehr schnell wurden es immer mehr, die mitmachten und halfen. Moderatoren, die ohne Gage bei Benefizgalas auftraten, Künstler, die Bilder versteigerten … 20 Millionen haben wir am Ende zusammengekriegt. Man gerät da ja in so einen regelrechten Rausch, in ein Millionenfieber, in eine Begeisterung über steigende Kontostände, als wären es die eigenen. Ich stand auf Bühnen, erzählte von großen Kinderaugen und Jungen und Mädchen, die noch nie Schokolade gegessen hatten, und sammelte Schecks ein bei Tombolas und Kirmessen und Feuerwehrfesten. Zwischendurch begleitete ich mit dem Mikrofon norddeutsche Hilfstransporte nach Bosnien. Einmal musste ich selbst ans Steuer eines schweren Lkw. »Im Prinzip fährt der sich genauso wie ein Pkw«, sagte Peter Quendler, »nur halt zwölf Gänge statt fünf.«
Und dann kommst du in ein Dorf, das den ganzen Winter über von der Außenwelt abgeschnitten war. Es
ist Tauwetter und du kannst da wieder hin. Alles ist matschig und braun, die Häuser, die verschlammten Straßen, die Leute am Straßenrand mit schmutzig braunen Lumpen und grauen, leeren Gesichtern – als ob du in ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto hineinfährst und das Leben dieser Menschen bunter machst mit deinen Lastwagen. Stehst oben auf der Ladefläche und wirfst Säcke mit Mehl, Zucker, Milchpulver, Tomatenkonserven und Seife in die Menge. Siehst Leute lachen und aufgeregt miteinander quatschen und alle sind glücklich und dankbar. Es ist sinnvoll und gut, was ich tue. Ich habe die Macht, Dinge geschehen zu lassen. Ich kann dem einbeinigen Jungen eine Prothese besorgen. Den Kindern, die noch nie in ihrem Leben Schokolade gegessen haben, welche geben. »Helfen macht glücklich«, sagt Peter Quendler – und wahrscheinlich kann man wirklich nichts Besseres für sich selbst tun, als anderen zu helfen.
Es relativiert im Übrigen einiges, wenn einem klar wird, dass es für viele Menschen ganz und gar nicht selbstverständlich ist, dass sauberes Wasser aus der Leitung kommt. Dass sie Brot kaufen können in der Bäckerei, dass sie zum Arzt gehen, Medikamente aus der Apotheke holen können … die Polizei rufen, wenn einer in die eigene Wohnung einbricht. Leider hielt dieses Bewusstsein bei mir nie allzu lange an. Ich habe mich dann auch wieder ziemlich schnell über zu weiche Pasta und Kork im Wein oder die Handwerkerrechnung und meine Freundin aufgeregt. Bedürfnishierarchie – so erklärte mir meine Therapeutin dieses Phänomen. Das bedeutet grob gesagt: Wenn ich mich in der Sahara verirrt habe und kurz vor dem Verdursten bin, empfinde ich meinen
Liebeskummer nicht unbedingt als vorrangiges
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