Der letzte Winter
1
D er Notruf ging um 05:32:18 Uhr ein: »Meine Lebensgefährtin reagiert nicht.« In diesem Augenblick war der exakte Zeitpunkt nicht von Bedeutung, er würde erst später wichtig, wenn die Ermittlung in die Phase Wann, Wie und Wer übergegangen war. Und möglicherweise Warum. Wenn überhaupt Ermittlungen nötig sein würden. Vielleicht waren die Umstände schon in dem Moment sonnenklar, als das Ereignis eintrat. Doch während der Streifenwagen in südlicher Richtung durch den Dezembermorgen fuhr, war noch alles unklar. Womöglich würde es ein schöner Tag werden, auch das konnte niemand mit Gewissheit vorhersagen. Der Meteorologe hatte sich nicht festgelegt. Die junge Polizistin Gerda Hoffner nahm einen Duft von Herbst wahr, der noch in der Luft hing, den süßen Duft von Oktober mitten im Dezember, wie ein Überbleibsel des Jahres, das bald zu Ende ging. Das neue Jahr würde vielleicht schön werden. Dieser Fall würde bald zu den Akten gelegt werden, wie man in der Ermittlungssprache sagte. Ihre Sprache war das nicht. Sie wollte die Sache nur so schnell es ging hinter sich bringen. Sie und Johnny, der neben ihr saß und die Hausfassaden nach der richtigen Nummer absuchte. Johnny Eilig, den Spitznamen hatten sie ihm innerhalb kürzester Zeit verpasst. Schnellstmöglich wollte sie in diese Wohnung, dann wollte sie nach Hause. Heute Nachmittag würde sie zehn Kilometer joggen, Påvelund, Ruddalen, langsam. Und danach würde sie sich hinlegen.
Sie hatte Angst. Zum ersten Mal würde sie dem Tod begegnen.
»Da!« Eilig zeigte auf eine Haustür mit zwei verschnörkelten Zahlen über dem Eingang, die wie aus Gold geschmiedet aussahen. Die Tür wirkte gleichzeitig einladend und abweisend. Einladend für diejenigen, die wussten, dass sie hier wohnten, und den Abschaum abweisend, der nach dem Freitagsbesäufnis von der Avenyn in diese Gegend gespült wurde. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie, als sie aus dem Auto stieg. Ich habe nie hierher gehört, habe noch nie ein Haus in Vasastan betreten. In diesem Stadtteil macht die Polizei selten Hausbesuche.
Gerda Hoffner gab den Code ein, und irgendwo in der massiven Tür klickte es. Johnny drückte die Klinke herunter.
»Immerhin hat er sich an den Code erinnert«, sagte er.
»Warum sollte er nicht?«
»Neben sich die tote Freundin, da ist es nicht sicher, dass einem überhaupt noch was einfällt. Zum Beispiel der Türcode.«
Sie standen im Treppenhaus, das groß war wie ein Ballsaal. Gerda Hoffner sah sich um. Überall funkelte es golden und silbern. Aschenputtel auf dem Ball, dachte sie. Und ich hab jetzt schon aufgescheuerte Füße. Die neuen Stiefel sind zu klein, das habe ich sofort gemerkt. Warum habe ich nichts gesagt? Doch an so etwas sollte man in einem Augenblick wie diesem nicht denken. Andererseits ist es vielleicht ganz gut. Am liebsten würde ich an gar nichts denken. Das Treppenhaus ist unheimlich, kein angenehmer Aufenthaltsort. Ich habe noch nie solche Angst gehabt. Was erwartet uns? Sie schaute hinauf zur Decke über den Treppen. Was würden sie dort oben vorfinden? Sie lauschte, konnte aber keine Krankenwagensirene hören, auf der Straße war es still. In diesem Augenblick sehnte sie sich richtig nach dem Geheul, es würde den Morgen zerschneiden, in den Morgen kreischen, alle wecken, die in diesem hübschen Haus wohnten. Für sie wäre es ein beruhigendes Geräusch.
»Dritter Stock«, sagte Johnny. »Wollen wir den Fahrstuhl nehmen?«
Der Fahrstuhl sah aus wie aus dem vorvorigen Jahrhundert, und so war es sicher auch. Das ganze Haus stammte aus dem vorvorigen Jahrhundert. Es war für Reiche gebaut worden, und Reiche wohnten noch immer hier. Aber im dritten Stock hatte jemand alles hinter sich gelassen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Wände waren mit Ornamenten bedeckt, hundert Jahre alte Muster, dieser Kunststil hatte einen Namen. Es war ein deutsches Wort, das in viele Sprachen übernommen worden war, etwas mit Jugend. Eine alte Kunst in einem alten Haus mit einem Namen, der etwas mit Jugend zu tun hatte. Die Ornamente glitten abwärts an den blassen Wänden, glitten aufwärts, kreisten um die Treppen und den Fahrstuhl.
»Kein Fahrstuhl«, sagte sie. »Ich will nicht auf halbem Weg stecken bleiben.«
Johnny, die SIG Sauer schon in der Hand, ging auf die Marmortreppen zu. Er hatte es wieder eilig. Sie folgte ihm. Sie trug den Werkzeugsatz für Polizisten und Kriminelle: Axt, Kuhfuß, Meißel, Stemmeisen, alles in einem. Einbrecher
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