Artefakt
gebracht und ihn anschließend mit einer gewissen Bitterkeit in der Seele zurückgelassen hatte, war nur ein Ersatz. Sein Leben lang hatte er sich, ohne davon zu wissen, nach diesen Stimmen gesehnt, denn sie waren das, was die anderen Ohren in ihm hören und die anderen Augen sehen wollten. Die Sucht nach dem Lied der Kosmischen Enzyklopädie war nichts anderes als genetisch verankerte, von veränderten DNS-Bauplänen geschaffene Sehnsucht nach den Programmbibliotheken – den Stimmen – der Superschmiede, die jemand aus der Zukunft nach Heraklon geschickt hatte.
Hier stand der Schmied, auf den die Superschmiede gewartet und den sie in Jazmine nicht gefunden hatte. Jazmine, in einem Uterus herangewachsen, ursprünglich mit demselben genetischen Bauplan ausgestattet wie ihr Bruder. Vielleicht war sie ungeeignet gewesen aufgrund irgendeiner individuellen Besonderheit oder inkompatibler genetischer Subcodes, die Coltans Gentechniker nicht rechtzeitig entdeckt und korrigiert hatten. Und dann war es erforderlich geworden, die Pläne zu ändern und übereilt zu handeln, und es war eine neue Jazmine entstanden, in einer biologischen Schmiede, die zweifellos versucht hatte, den »Fehler« der genetischen Manipulationen zu korrigieren, und ausgestattet mit einem unvollständigen Image. Coltans Leute hatten sie hierhergebracht, offenbar noch als Kind, in etwas, das ein Gefängnis für sie gewesen sein musste, und sie war verrückt geworden, wahrscheinlich schon nach kurzer Zeit. Und das Artefakt hatte weiterhin geschlafen, bis Rahil gekommen war.
Seine Gedanken rasten, wie von Femtomaschinen beschleu nigt, und er begriff, dass die Stimulation von der Ekstase ausging, die er bisher nur mit dem Lied der Kosmischen Enzyklopädie in Verbindung gebracht hatte. Weitere Erkenntnisse öffneten sich ihm wie Blütenkelche der Sonne. Er war hierhergekommen und hatte das Artefakt berührt, als die Barriere – die Phasenübergänge des Absorptionsfelds – noch nicht existierte. Und dabei hatte er, ohne es zu wissen und vielleicht über seine Schwester, die vertraute und doch fremdartige Präsenz im Innern des Artefakts erreicht, den Ruhezustand der Superschmiede beendet. Sie war aktiv geworden und hatte begonnen, Energie und Basismasse aufzunehmen, sich selbst aus dem Planeten zu graben, in dem sie seit zehn Millionen Jahren steckte. Aber etwas in ihr war durcheinandergeraten oder defekt, vielleicht aufgrund des Einflusses, den eine verrückte Schmiedin über siebenundachtzig Jahre hinweg ausgeübt hatte, ohne zu ahnen, was sie tat. Oder beim Sturz aus der Zukunft in die Vergangenheit von Heraklon war etwas passiert, das die Integrität der Programmbibliotheken beeinträchtigt hatte. Nach der Initialisierung hatte die Schmiede begonnen, Energie aufzunehmen und die Materie in ihrer Umgebung als Basismasse zu verwenden, aber da der steuernde Einfluss aktiver Programme fehlte, hatte sie sich selbst in einer Art wucherndem Wachstum erweitert.
»Du kannst sie verstehen«, brachte Jazmine hervor, die kahlköpfige Jazmine mit dem vernarbten Gesicht. »Du kannst sie wirklich verstehen.«
Rahil hörte nicht nur ihre Worte, sondern auch ihre Gedan ken, ein Flüstern im Flüstern, wirr und konfus, in einem Knäuel aus Emotionen, in dem Enttäuschung und Zorn alles andere dominierten.
»Du bist erst seit kurzer Zeit hier, und schon kannst du die Stimmen verstehen!«, rief Jazmine, die am Fenster stand, in ihren Händen Gegenstände, die aus dem Nichts erschienen und wieder verschwanden. »Du hast mir mein Leben genommen, und jetzt willst du mir auch die Stimmen nehmen!«
Sie ist süchtig wie ich, dachte Rahil, im grauen Licht von grauen Fäden umsponnen, die sich nach Farbe sehnten. Die Stimmen haben ihr den Verstand geraubt, weil sie ohne Worte blieben, ohne Botschaft, aber sie brauchte sie auch. Ohne die Stimmen wäre sie hier im Artefakt zugrunde gegangen.
Rahil konzentrierte sich auf das Wispern und Raunen, dachte dabei an die inneren Augen und Ohren.
Der Blinde sah, der Taube hörte.
Er sah: noch mehr Fäden in der grauen Luft des Flüstersaals, ein Gespinst, das immer komplexer wurde, aber nicht wirrer, in dem sich Muster zeigten, in dem Verbindungen mit ihm entstanden. Er befand sich im Mittelpunkt, aber er war kein zappelndes Insekt im Netz einer hungrigen Spinne.
Er sah: Muster, die sich wiederholten, erkannte in ihnen die fraktalgeometrische Struktur der Superschmiede und ihrer Programmbibliotheken, die den Aufbau von Materie
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