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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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betrafen, die Form von Raum und Zeit. Für einen Moment verwandelte sich das Gebäude mit den vielen Zimmern und Fluren in zwei große Spiegel, die jeweils aus zahllosen kleineren Spiegeln bestanden, und er befand sich zwischen ihnen und sah, mit den anderen, den inneren Augen, sich selbst und seine Wirklichkeit endlos reflektiert.
    Endlose Möglichkeiten. Kleine Bewegungen genügten, um sie zu verändern, um neue reflektierte Wirklichkeiten zu erschaffen.
    Er hörte: die Stimmen der Fäden. Jeder einzelne von ihnen sprach mit einer eigenen Stimme und beschrieb, ruhig und geduldig, die Möglichkeiten, die ihm die Spiegel gezeigt hatten, mehr als er zählen konnte. Einige erhabene Sekunden lang hatte Rahil das Gefühl, dass ein alter Wunsch in Erfüllung gegangen war, dass er nicht nur das Lied der Kosmischen Enzyklopädie hörte, sondern auch die Botschaft darin, den Inhalt der Töne. Er hob die Hände, berührte die Fäden des Gespinstes und glaubte, die Enzyklopädie der Hohen Mächte zu berühren, die das ganze Universum durchzog, oder zumindest den Virgo-Superhaufen, der aus zweihundert Galaxienhaufen bestand. Lag darin das Geheimnis der Superschmiede, der Schlüssel zu ihrer Funktion? War sie – so wie er jetzt mit den Fäden, ihren Programmbibliotheken – mit der Kosmischen Enzyklopädie verbunden?
    »Du sprichst mit ihnen!«, rief Jazmine. »Dummer Junge, ich will nicht, dass du mit ihnen sprichst! Sie gehören mir …«
    Verzückt lauschte Rahil den Stimmen, mit der Erleichterung von jemandem, der endlich am Ziel eines langen Weges angelangt war. Millionen von Stimmen waren es, und zunächst fiel es ihm schwer, die einzelnen Worte voneinander zu unterscheiden. Aber der Teil von ihm, der über Jahrzehnte hinweg der Kosmischen Enzyklopädie gelauscht hatte, lernte schnell und trennte die Worte voneinander. Die Stimmen wurden nicht we niger, eher mehr, doch er verstand, wovon sie alle flüsterten: von Möglichkeiten, von Potenzial, von Wünschen, die im wahrsten Sinne des Wortes Gestalt annehmen konnten. Sie erzählten ihm, wozu das Artefakt, die Superschmiede, fähig war. Sie erklärten ihm, was er tun musste, um ihr Potenzial zu nutzen.
    »Hör auf!«, heulte Jazmine. »Hör auf, dummer Junge! Du verstehst nicht, was ich hinter mir habe. Du verstehst nicht, dass dies mein Zuhause ist. Du hast mir mein Leben und die Stimmen genommen, aber mein Zuhause nimmst du mir nicht.«
    Es war eine andere Stimme, die des Wahnsinns, laut und schrill, und Rahil sah sie mit seinen äußeren Augen, die nur einen kleinen Teil von dem sahen, was an diesem Ort existierte: seine Schwester, aufgewachsen im Artefakt und in ihm verrückt geworden, das narbige Gesicht verzerrt, die Augen groß und voller Zorn. Sie stand vor ihm, nicht Teil des Gespinstes wie er, nicht mit den Fäden verbunden, aber in der rechten Hand einen Dolch wie aus grauem Glas.
    Jazmine stieß damit zu.
    Ein Blinzeln, ein stechender Schmerz, und wieder sah Rahil mit den Augen, die nicht alles sahen, dass der Dolch ein Loch in seiner Brust hinterlassen hatte, dort, wo sein Herz schlug. Es macht nichts, dachte er. Ich bin am Ziel; hier kann ich nicht sterben.
    Dann breitete sich Schwäche in ihm aus, und er begriff, dass er sich irrte.
    Benommenheit erfasste ihn, und Schwäche. Jazmine stand noch immer da, Triumph in dem Gesicht, das sie sich vor vielen Jahren selbst zerkratzt hatte.
    Rahil taumelte, und seine Hände strichen durch die Fäden, als wollten sie sich an ihnen festhalten.
    »Du hast mir das Leben genommen, und jetzt nehme ich dir das deine«, sagte Jazmine mit einer Kälte in der Stimme, die ihn an seinen Vater erinnerte. Sie ging, sie verließ den Flüstersaal, sie ließ ihn allein.
    Aber er war nicht allein. Die Stimmen umgaben ihn, flüsterten noch immer von Möglichkeiten, und Rahil, dem Tode nahe, suchte in ihnen nach einer Möglichkeit für sich. Er dachte an seinen Einsatz, an seine Mission. Er dachte daran, dass die Ägide – wenn er starb, wenn er nicht aus dem Artefakt zurückkehrte – einen Nachfolger schicken würde, vielleicht einen anderen, wiederauferstandenen Rahil. Sein Image lag bereit, sein genetischer Code ebenfalls, und die Techniker der Ägide wussten, wie man mit einem Uterus umging. Doch dem nächsten Rahil würden diese Erinnerungen fehlen; er konnte sich nicht daran erinnern, was im Artefakt geschehen war.
    Rahil taumelte erneut, die Beine knickten schier unter ihm ein. Die Worte eines Gesserat, der Zacharias genannt

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