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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Ende des größten Flurs mit den leeren Bildern. Rahil sah das, was sein Gehirn für das plausibelste Äquivalent der Dinge hielt, die ihn umgaben, aber konnte er sicher sein, dass seine Wahrnehmung der tatsächlichen Realität des ihn umgebenden Artefakts auch nur ansatzweise gerecht wurde?
    Und doch …
    In ihm schlummerte dasselbe »Programm«, das Coltan auch seiner Schwester gegeben hatte, und an dem sie an Bord der Rosenduft schwer erkrankt war. Mit der Unterstützung eines Helfers bei den Hohen Mächten – aus dem Umstand, dass ein solcher Helfer existierte, ergaben sich viele weitere Fragen – hatte Coltan Jaqiello, Patron der Tennerits, seinen beiden Kindern die Fähigkeit geben wollen, polychrome Schmieden zu programmieren und zu steuern. Bei Jazmine konnte dieser Plan nicht funktioniert haben, denn die im Mutterleib herangewachsene Version war krank geworden und die andere, von einem Uterus geschaffen, dem Wahnsinn anheimgefallen. Die verrückte Jazmine verstand die Stimmen nicht und war seit siebenundachtzig Jahren im Artefakt gefangen. Wie hatte sie diese Zeit verbracht? Und was war geschehen, als Rahil zum ersten Mal in die Arktis von Heraklon gekommen war und das schlafende Artefakt berührt hatte? Etwas war dabei im schwarzen Oktaeder erwacht, aber inzwischen war er nicht mehr sicher, dass es sich dabei um seine Schwester handelte. Oder nur um sie. Es gab hier noch etwas anderes, das geruht hatte, vielleicht zehn Millionen Jahre lang, seit das Artefakt aus der Zukunft in der Vergangenheit von Heraklon erschienen war.
    Einmal stand Rahil vor der Tür am Ende des Flurs mit den leeren Bildern und dachte: Ich sollte sie öffnen können. Wenn er ein Schmied war, wenn er die notwendigen Fähigkeiten in sich trug, sollte er in der Lage sein, die Tür aus dem uralten, wie versteinerten Holz zu öffnen und herauszufinden, was sich hinter ihr befand. Aber als er die Klinke drückte, blieb die Tür geschlossen.
    »Öffne dich«, sagte er, doch die Tür verharrte in stummer Reglosigkeit.
    »Dummer Junge«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Glaubst du etwa, die Tür würde dir gehorchen?«
    Rahil drehte sich um. Jazmine stand dort, ohne ihren langen schwarzen Zopf, mit Narben im Gesicht. Er hob die Hand und tastete nach den Wunden auf seinen Wangen, die gerade erst zu heilen begannen, obwohl sie mehrere Tage alt waren. Würde er, wenn er im Artefakt blieb, ähnlich aussehen wie seine Schwester, mit einem Gesicht voller Narben, mit dem einen Unterschied, dass er sie sich nicht selbst beigebracht hatte?
    »Unser Vater hat uns zu Schmieden machen wollen, Jaz«, sagte er. »Wir sollten in der Lage sein, dies alles zu kontrollieren.« Er machte eine Geste, die allen Fluren und Zimmern galt, dem ganzen Gebäude.
    »Ich habe es versucht«, erwiderte Jazmine, und plötzlich klang sie wie das kleine Mädchen, das er in Erinnerung hatte. »Ich habe es versucht, Rahil, aber es ging nicht. Ich verstehe die Stimmen nicht. Vielleicht liegt es daran.«
    Es geschah zum ersten Mal, dass sie seinen Namen nannte. Bedeutete es, dass sie Fortschritte erzielten, dass es ihr besser ging? Hoffnung erwachte in Rahil. Vielleicht genügte es, dass Jazmine jemanden hatte, mit dem sie sprechen konnte. Vielleicht fand sie, über die Präsenz einer anderen Person, wieder zu sich selbst.
    »Führe mich zu den Stimmen«, sagte er.
    Sie riss die Augen auf. »Du sollst mich nicht nach den Stimmen fragen! Wie oft habe ich dir das gesagt? Tausendmal!«
    »Ich habe nicht nach den Stimmen gefragt«, sagte Rahil ruhig. »Ich bitte dich, mich zu ihnen zu führen. Lass sie mich hören, aus der Nähe. Vielleicht verstehe ich sie.«
    »Dummer Junge! Glaubst du vielleicht, dir könnte etwas gelingen, das ich seit vielen Jahren vergeblich versuche?«
    Rahil beobachtete die Hände seiner Schwester, und nicht aus Furcht vor den Fingernägeln, die blutige Furchen in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Manchmal, wenn sie erregt war, erschienen Objekte in ihnen, wie der Dolch aus Glas.
    »Hör auf damit, Jaz«, sagte er und gab seinen Worten eine gewisse Schärfe. »Bring mich zu den Stimmen.«
    Ihr Mund klappte auf und wieder zu, und sie sah ihn verblüfft an, während in ihrer rechten Hand die blassen Konturen eines vagen Gegenstands erschienen, grau wie das Licht im Flur.
    »Bring mich zu den Stimmen, Jaz«, fügte Rahil sanfter hinzu. »Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, sie zu verstehen.«
    Der Flüstersaal, wie Jazmine ihn nannte, befand sich in einem

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