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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Gedanken in einen Kopf passen und wie man ihre Größe misst.«

Und wie oft gewann die Lüge
Ihr betrügerisches Spiel,
Wann den Sinnen nur zur Gnüge
Ihre Larve wohlgefiel.
    Lucrezia
    10
    Dies ist ein stiller Ort«, sagte Lucrezia, als sie an den Gräbern vorbeischritt. Sie ging langsam, vielleicht wegen der geringen Schwerkraft, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. »Ein Ort der Ruhe und der Besinnung. Hier kann man gut nachdenken.«
    »Hast du es inzwischen herausgefunden?«, fragte Rahil.
    An einem besonders großen Grab blieb sie stehen. »Wie viele Gedanken in einen Kopf passen und wie man ihre Größe misst?«
    Rahil bemerkte, dass sie bei diesen Worten nicht lächelte, obwohl angenehme Gedanken damit verbunden waren, sicher nicht nur für ihn, sondern auch für Lucrezia. »Ja«, sagte er. »Du hattest einundzwanzig Jahre Zeit.«
    »Viel Zeit, um Antworten auf zwei dumm klingende Fragen zu finden, nicht wahr?«
    »Sie sind nicht dumm.«
    »Nein«, bestätigte Lucrezia. »Es sind keine dummen Fragen. Und einundzwanzig Jahre sind viel Zeit, ja, aber vielleicht nicht Zeit genug. Früher habe ich selten darüber nachgedacht, über die Zeit, doch die Gedanken daran beherrschen mich immer mehr. Wie viele Gedanken über die Zeit passen in einen Kopf?«
    Sie standen nur einige Hundert Meter vom einen Ende des langen Habitatzylinders entfernt, mitten im Friedhof, dessen fast sechshundert Jahre alten Grabsteine an die Ereignis -Flüchtlinge erinnerten. Der knapp zehn Kilometer durchmessende und sechzig Kilometer lange Zylinder drehte sich langsam, und die Zentrifugalkraft vermittelte das Gefühl von Gewicht. Mit Grav-Generatoren war dieses Habitat nie ausgestattet gewesen, und ihre nachträgliche Installation hätte die strukturelle Integrität zu sehr belastet. Deshalb drehte sich der Zylinder immer noch, mit der gleichen Geschwindigkeit wie damals, als die Flüchtlinge aufgebrochen waren, um der Katastrophe zu entgehen.
    Zehn Kilometer weiter oben bestand der Himmel zum größ ten Teil aus unterschiedlichen Landschaften: Wälder, Hügel, das silberne Band eines Flusses, einige Gebäude an seinen Ufern. Weiter rechts, tiefer im Innern des Zylinders, erstreckte sich ein Industriepark, natürlich nicht mit Schmieden ausgestattet. Die alten Anlagen waren längst stillgelegt – schon seit Jahrhunderten dienten sie als Museum. An manchen Stellen fanden Restrukturierungsarbeiten statt, und dort zeigten sich die alten Gerüste des Habitats, zwischen ihnen Dämmfelder, die vor Mikrometeoriten besser schützten als meterdickes Synthmetall. Es war eine künstliche Welt, und sie machte keinen Hehl daraus, eine zu sein.
    Vor einundzwanzig Jahren hatte Lucrezia sie zu ihrer neuen Heimat gemacht. Den Grund dafür hatte Rahil damals nicht verstanden, und er war nicht sicher, ob er ihn jetzt verstand.
    »Ich werde hier liegen, Rahil«, sagte Lucrezia. »In einigen we nigen Jahren werde ich den Flüchtlingen hier Gesellschaft leisten, für immer. Zumindest so lange, wie das Habitat existiert.«
    Rahil musterte sie. Aus der grazilen, eleganten, ewig jungen Lucrezia, Tochter einer angesehenen Administratorenfamilie auf Ganska, war eine alte, leicht gebeugt gehende Frau geworden, mit einem Übergewicht von mindestens zwanzig Kilo. Ihr Haar war noch immer so dunkel wie damals, aber nicht mehr so lang, und es hatte seinen Glanz verloren.
    Sie bemerkte seinen Blick. »Nein, ich bin nicht krank, Rahil. Eine Krankheit ließe sich heilen. Es sind die Femtomaschinen.«
    Natürlich, dachte Rahil. Sie ist keine Missionarin mehr.
    »Die kleinen Helfer, die du in dir trägst, die deine Zellen reparieren und mir deine Identität sowie den Exekutor-Status bestätigt haben …« Lucrezia deutete auf den Scanner am Werkzeuggürtel ihrer weiten Kombination. »Ich habe sie nicht mehr. Sie wurden mir damals genommen, als ich meinen Abschied vom aktiven Dienst erklärte. Du kennst die Regeln der Ägide.«
    »Du hast wie lange im Außendienst der Ägide gearbeitet? Zweihundert Jahre?«
    »Ja.«
    »Man hätte eine Ausnahme für dich machen können.« Rahil wollte es erbost klingen lassen, aber stattdessen lag Trauer in seinen Worten.
    »Es gibt keine Ausnahmen. Die Regeln müssen eingehalten werden. Was wir von anderen verlangen, müssen wir auch selbst tun.«
    »Aber …«
    Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich weiß. Manchmal ist es sehr schwer. Wir haben oft darüber gesprochen, erinnerst du dich? Auch damals auf Korinth, als wir uns das

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