Artefakt
letzte Mal sahen.«
»Warum?«, brachte er hervor, und sein Blick folgte der Hand, als sie sich von seinem Arm löste. »Warum hast du dich gegen das Leben und für den Tod entschieden?«
Lucrezia lachte leise, doch es klang bitter. »Hast du etwas anderes getan, Rahil? Wie oft bist du inzwischen gestorben?«
Er zögerte und sah auf den Grabstein hinab, vor dem sie standen. Horatio E. Pechaira, gestorben im Jahre 89 nach dem Aufbruch , stand dort in goldenen Lettern. Hier liegt ein Leben begraben, aber nicht die Hoffnung .
»Du suchst den Tod nur auf andere Weise als ich«, sagte Lucrezia. »Du willst bei der Erfüllung der Pflicht sterben, um dich für deine Schuld an Jazmines Tod zu bestrafen. Die Pflicht, die dir Halt gibt, damit du nicht von deinem Weg abkommst, und der Tod als gerechte Strafe und Befreiung. So lautete damals die Diagnose des Psychomechanikers Lynton Hongeva Ayyad. Hat sich daran inzwischen etwas geändert?«
Einige Sekunden verstrichen.
»Und du?«, sagte Rahil langsam, als er den Anflug von Panik mithilfe der Rüstung niedergerungen hatte. »Warum suchst du den Tod?«
»Oh, ich suche ihn nicht. Ich akzeptiere ihn nur, als Konsequenz der Entscheidung, nicht mehr als Missionarin auf den Gefallenen Welten unterwegs zu sein. Ich konnte es damals nicht mehr ertragen, all das Elend zu sehen und nicht richtig helfen zu können.« Lucrezia deutete auf den Grabstein. »Ich habe sie oft gesehen, die Hoffnung. In den Augen von Menschen, die fest daran glaubten, mein Eingreifen könnte alles besser machen. Und weißt du was, Rahil? Ich hätte tatsächlich alles besser machen können. Mit den richtigen Mitteln. Und der Ägide stehen die richtigen Mittel zur Verfügung. Aber wir dürfen sie nicht einsetzen, zumindest nicht immer. Ich habe die Hoffnung sterben sehen, Rahil, viel zu oft.« Sie seufzte. »Ägide bedeutet Schutz, Obhut. Vor sechshundert Jahren, nach dem Ereignis , mag alles gut gemeint gewesen sein, aber heute … Wovor schützt die Ägide die Gefallenen Welten? Vor dem Fortschritt?«
Rahil dachte an Sammaccan, den er in einem Schulungszimmer des alten Industrieparks zurückgelassen hatte, und fragte sich, ob Lucrezia bereit gewesen wäre, ihm Waffen oder gar eine Schmiede zu geben. »Und deshalb bist du hierhergekommen?«
»Ja.« Ein scheues Lächeln erschien kurz auf Lucrezias Lip pen. »Es ist einer der Gründe. Ein anderer ist die Gruppe.«
»Die Gruppe? Oh, meinst du Aites, Durrwachter, Crotwell und all die anderen?« Rahil sah die Gesichter vor dem inneren Auge: Freunde und Gefährten, von denen er lange nichts mehr gehört hatte.
»Aites ist seit fünf Jahren tot, gestorben auf Chopelas«, sagte Lucrezia. »Crotwell hat uns nach nur einem Jahr verlassen und arbeitet noch immer als Missionar. Ihm war die relative Unsterblichkeit durch primäre Technik wichtiger als alles andere. Durrwachter hat inzwischen die Leitung der Gruppe übernommen und Spezialisten von unabhängigen Welten und sogar der Bruch-Gemeinschaft zu uns geholt. Wir sind jetzt einhundertvier und arbeiten mit den Archäologen auf Kedra zusammen«, fügte sie stolz hinzu.
Einhundertvier Forscher, die versuchten, die Melodien der Kosmischen Enzyklopädie zu entschlüsseln. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte Rahil zwischen zwei Einsätzen an dem Projekt mitgewirkt, hauptsächlich deshalb, weil es ihm einen Vorwand gab, dem Lied zu lauschen und seine Gedanken von ihm forttragen zu lassen. Damals war ihm schnell klar geworden, dass es selbst mit den besten Maints nicht möglich sein würde, den Code zu entschlüsseln. Man musste zu den Hohen Mächten gehören, um auf das Wissen zugreifen zu können, dessen codierte Sphärenklänge das Universum durchzogen und in dem verborgen waren, was die frühen Astronomen und Astrophysiker der Erde vor Jahrtausenden als Drei-Kelvin-Strahlung identifiziert hatten. Es entbehrte nicht einer gewissen Eleganz, fand Rahil, dass das Echo des Urknalls unbegrenztes Wissen in sich trug.
»Seid ihr weitergekommen?«, fragte er und spürte, wie ihn trotz der Rüstung der Wunsch erfasste, das Lied zu hören.
»Wir versuchen es inzwischen mit der Fraktalmathematik der Hosprit«, sagte Lucrezia. Sie wandte sich von den Gräbern ab und ging langsam über den Pfad, der zum Ende des Friedhofs führte, wo ein tropfenförmiger Habitatschweber auf sie wartete. Rahil blieb an ihrer Seite und hörte, wie feiner Kies unter seinen Schritten knirschte. »Die Hosprit haben damit offenbar Erfolge bei ihren
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