Artefakt
Stunden«, sagte Lucrezia.
»Zeit genug.« Rahil trat auf sie zu, angetrieben von einer plötzlichen Sehnsucht, von einem Verlangen nach dem alten Zauber, den es damals zwischen ihnen gegeben hatte, zuletzt auf Korinth. Er fasste Lucrezia vorsichtig an den Schultern, umarmte sie dann, noch immer behutsam, und zog sie an sich.
Sie versteifte sich in seinen Armen, und in ihren Augen zeigten sich Überraschung und Erschrecken. »Rahil, nein, ich … Ich bin nicht mehr die Frau, die ich damals gewesen bin. Sieh mich nur an! Ich bin alt und dick und …«
»Du bist Lucrezia«, sagte Rahil sanft. Erinnerungen stiegen in ihm auf, wie Luftblasen in einem dunklen Meer. »Damals, als du selbst noch Missionarin gewesen bist, und auch auf Korinth, wo wir uns das letzte Mal sahen … Du hast gesagt, dass man den Augenblick nutzen muss, die Zeit, die uns bleibt, den Moment, den man nicht festhalten kann. Du hast es mit zwei Worten aus einer der alten Sprachen der Erde ausgedrückt.«
Lucrezia sah zu ihm hoch, und einige der Falten schienen aus ihrem Gesicht zu verschwinden, als sie lächelte. »Carpe diem.«
»Ja, genau. Carpe diem«, sagte Rahil und führte sie zur Tür.
Rahil hatte gehofft zu vergessen, die Jahre abzustreifen wie einen Mantel, und wieder zu dem Mann zu werden, der er damals gewesen war, wenigstens für eine halbe Stunde oder vielleicht eine ganze. Aber die Unruhe in ihm blieb, verursacht von Fragen, die auf Antworten warteten, und von Gesichtern aus seiner Vergangenheit. Eines von ihnen gehörte Jazmine, und ihre Lippen bewegten sich manchmal, als wollte sie ihm über die Kluft von Zeit und Tod hinweg etwas sagen. Ein anderes zeigte ihm Lucrezia als Missionarin, schlank und schön, von den Femtomaschinen der Primären jung gehalten, das Gesicht glatt und voller Leidenschaft, die Augen groß und glänzend, das Haar ein dunkler Vorhang, der fast bis zu den Hüften reichte. Aber es war eine Lucrezia, die nicht mehr existierte. Die Frau, die er jetzt in den Armen hielt und die ihn in sich aufgenommen hatte, war alt, älter als es die junge Lucrezia mit zwanzig zusätzlichen Jahren hätte sein sollen. Diese Lucrezia wohnte in einem Körper, der nach der Deaktivierung der Femtomaschinen dem Verfall preisgegeben war und nachzuholen versuchte, was er in den vergangen Jahrzehnten und Jahrhunderten versäumt hatte. Wer als Missionar für die Ägide arbeitete, genoss relative Unsterblichkeit. Doch wer sich, aus welchen Gründen auch immer, aus dem aktiven Dienst zurückzog, ohne Herausragendes geleistet zu haben, verlor den Segen der Immortalität. Die Femtomaschinen wurden stillgelegt oder ganz entfernt, woraufhin der Countdown in den Körperzellen weiterging, schneller als vorher. Soweit Rahil wusste, gab es nur siebenundvierzig Missionare, die während ihrer langen Tätigkeit für die Ägide so viele Verdienste errungen hatten, dass die Femtomaschinen in ihnen zu permanenten Implantaten geworden waren. Die Hohen Mächte herrschten nicht nur über unendliches Wissen, sondern auch über Leben und Tod.
Diese und andere Dinge gingen Rahil durch den Kopf, als er Lucrezia liebte, und vielleicht merkte sie etwas davon, denn als Rahil ihr in die Augen sah, hatten sie sich mit Tränen gefüllt. Er hielt sie in den Armen, während sich das Bett in der Mitte des Zimmers in einem autonomen Gravitationsfeld drehte. Einmal, als er den Blick von Lucrezia löste, kam er sich fast wie im Innern von Emilys Würfel vor. Drei Wände, Decke und Boden des Zimmers zeigten donnernde Wasserfälle, mehr als einen Kilometer hoch, die sandigen Wogen endloser Wüsten, das grüne Meer eines Waldes, der einen ganzen Kontinent bedeckte, einen Schwarm rosaroter Quallen, die in einem lichtdurchfluteten Ozean schwammen, und die majestätischen, schneegekrönten Häupter hoher Berge. Die vierte Wand war ein Panoramafenster und bot Blick auf Kedra und den roten Riesen Otiz.
Lucrezia weinte lautlos, und für eine seltsame Sekunde wünschte sich Rahil fort, weit weg von allem.
Er rückte näher an sie heran und schlang erneut die Arme um sie, während sich Kedra langsam drehte, grau und grün, eine vor zehntausend Jahren aus dem Eis erwachte Welt. Bald würde es dort unten wieder Leben geben wie zur Zeit der Ausgestorbenen, geschaffen und geformt von den Aun. Für wie lange?, dachte Rahil. Für hunderttausend Jahre? Eine Million? Zehn Millionen? Bis Otiz weiter anschwoll und auch Kedra verschlang? Oder bis der rote Riese als Nova seine Hülle
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