Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
vertrackt, auch wenn wir sie einmal anders herum betrachten und auf der Grundlage der bisherigen Diskussion fragen: Wenn Tiere als empfindungsfähige Wesen uns gegenüber also Rechte haben – sind dies denn
dieselben
Rechte, wie wir sie auch Menschen zubilligen?
Das hängt von den Bedürfnissen ab: Ein Hund hat kein Recht auf einen guten Füller, er braucht nämlich keinen; ein Schulkind schon. Hier ist also der Inhalt des Rechts offenbar nicht derselbe. Wenn der Inhalt aber derselbe ist, sind die Rechte der beiden dann gleichrangig? Das Schulkind und der Familienhund haben Hunger, es gibt aber nur genau ein belegtes Brötchen. Haben beide dasselbe Recht darauf? (Man möge sich bitte vorstellen, das Brötchen sei unteilbar.)
Man kann sich unendlich viele solcher Situationen ausdenken, und man muss sie sich nicht einmal ausdenken. Ob beim Tierversuch, beim Milchtrinken, bei der Meerschweinchenhaltung, bei der Putenmast: In der Tierethik geht es zumeist genau darum, bestimmte Interessen von Tieren gegenüber bestimmten menschlichen Interessen zu gewichten. Weil die Frage nach dem Speziesismus ohnehin immer wieder auftaucht, muss sie hier nicht entschieden werden. Dennoch ist es sinnvoll, das Problem jetzt schon einmal präzise zu formulieren: Ist Speziesismus immer etwas Schlechtes oder manchmal auch etwas Neutrales?
Etwas Schlechtes meint der Begriff Speziesismus insofern, als er ja dem des Rassismus analog gebildet (und gedacht) ist. Wenn wir feststellen, dass in einer Situation Unterschiede zwischen verschiedenen Spezies gemacht werden, ohne dass sie in unterschiedlichen Bedürfnissen begründet sind, wenn es sich also schlicht um Bevorzugung der eigenen Spezies handelt, sprechen wir von Speziesismus.
Im neutralen Sinne könnte Speziesismus heißen, dass wirin bestimmten Situationen Unterschiede machen zwischen den Angehörigen verschiedener Spezies, und das muss ja – siehe den Füller, das allgemeine Wahlrecht oder das Recht, Astronaut zu werden – keine abwertende, ausgrenzende Komponente haben. Nicht jede Andersbehandlung ist Schlechterbehandlung. In diesem Fall sprechen wir aber, um Missverständnisse zu vermeiden, lieber gar nicht erst von Speziesismus.
Des Weiteren kann es Situationen geben, in denen wir Mitglieder der eigenen Spezies bevorzugen, so wie wir auch Familienmitglieder bevorzugen, weil wir ihnen gegenüber besondere Pflichten haben (Besuche im Krankenhaus, telefonische Erreichbarkeit in Notfällen, finanzielle Unterstützung oder was auch immer). Auch das ist zunächst in Ordnung. Allerdings kann uns diese Art von Nähe oder Verwandtschaft eben auch dazu verleiten, andere Menschen bevorzugt zu behandeln, obwohl wir gar keine speziellen Pflichten ihnen gegenüber haben – sondern obwohl dies an sich ungerechtfertigt ist, aber vielleicht doch verständlich, nachvollziehbar, verzeihlich.
Am ehrlichsten ist daher wohl das Eingeständnis: Obwohl das Argument gegen den Speziesismus innerhalb der Tierethik schon einige Tradition hat, lässt sich seine Reichweite zumindest an diesem Punkt der Diskussion noch nicht endgültig entscheiden. So wird es im nächsten Kapitel auch darum gehen, ob es Kontexte geben könnte, in denen auch ein ungerechtfertigter Speziesismus zumindest verständlich oder verzeihlich wäre.
Zusammenfassung
Jeder von uns, der in der Lage ist, dieses Buch zu lesen, hat Empfindungen und Wünsche, kann Leid und Freude erleben. Und nicht nur er oder sie, sondern auch alle weiteren Menschensowie Tiere ab einer bestimmten Entwicklungsstufe, nämlich die Wirbeltiere. Moral hat ihren Ausgangspunkt in genau dieser Einsicht: dass es eine Realität positiver wie negativer Empfindungen nicht nur für uns, sondern ebenso für andere gibt. Diese Einsicht hat sowohl emotionale als auch kognitive Anteile. Wir müssen daher nicht alle anderen mögen oder Mitgefühl empfinden oder Gutes für sie wollen; aber sobald wir einen Schritt zurücktreten und uns die Situation von einer übergeordneten Warte aus vorzustellen versuchen, können wir uns doch dem universalistischen Kerngedanken nicht verschließen: Das Wollen und Fühlen und Erleben der anderen ist genauso real und bedeutend wie das unsere. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat es so formuliert: «Ich muss anerkennen, dass ich objektiv nicht wichtiger bin als irgendeine andere Person – dass meinem Glück und meinem Leid keine größere Bedeutung zukommt als beliebigem anderen Glück und Leid. Und der Teil meines Selbst, der
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