Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
lieber nicht sehen will. Sicher, man darf seine Augen vor moralischen und politischen Problemen nicht verschließen. Aber muss man wirklich schon am frühen Morgen gezwungen werden, sie entsetzt aufzureißen?
Ich öffne also nach dem Frühstück meinen Laptop und empfange eine Nachricht mit etwas, das wie eine Art Weihnachtsbaum aussieht. Was bei einem Weihnachtsbaum grün ist, ist hier allerdings weiß. Weiße Äste stehen von dem Stamm ab – es ist kein Stamm, es ist ein Ständer, und es sind auch keine Äste, sondern Flaschen. Es sind Flaschen, in die weiße Laborratten gestopft sind. Wenn man genau hinschaut, sieht man das flauschige Fell, gegen das Glas gedrückt, am anderen Ende zwei rote Punkte, die Augen, und das Schnäuzchen. So sind sie 90 Tage lang jeweils sechs Stunden reglos in diesen Flaschen fixiert und müssen Zigarrettenrauch inhalieren. Ein Zigarettenhersteller will nämlich wissen, wie eine Rattenlunge die Geschmacksnoten Honig, Zucker, Melasse, Pflaumensaft, Limettenöl, Schokolade, Kakao und Kaffee verträgt.[ 1 ]
Warum auch nicht? Das sind völlig legitime Fragen in einer Welt, in der vom Backaroma bis zum Holzschutzmitteldie Giftigkeit jeder neuen Substanz an Tieren getestet wird und in der man Doktortitel erlangen kann, indem man neugeborenen Kätzchen die Augen zunäht oder Meerschweinchenohren mit Gewehrschüssen beschallt.[ 2 ]
Nehmen wir ein paar andere Beispiele: Zwei kleine Jungen haben mit viel Vergnügen Katzenbabies stranguliert, sich dabei gefilmt und das Video auf YouTube gestellt. In dem bulgarischen Dorf Brodivolo werden jedes Jahr Straßenhunde an eine Schnur gehängt, mehrfach im Kreis gedreht und dann in den Fluss geschleudert; ein entsetzter Tourist hielt die Kamera darauf. Aus Zentralafrika erreicht uns ein grässliches Foto: Beim jährlichen Erste-Früchte-Fest der Zulu im Dezember ringen etliche erwachsene Männer gemeinsam einen Büffel nieder, quetschen ihm die Augen ein, verdrehen ihm die Hoden und bringen ihn mit bloßen Händen zu Tode.
Die Zulu nennen es Tradition, wir nennen es Tierquälerei. Denn wie vermutlich jedes Übel lässt sich Tierquälerei dort am leichtesten als solche erkennen und verdammen, wo es am weitesten von uns entfernt ist, geografisch wie biografisch. Die beiden Jungen zum Beispiel empfanden beim Katzenquälen Spaß. Allerdings tun und opfern auch Erwachsene so einiges, um Spaß zu haben – Zeit, Geld und Gesundheit. Bisweilen riskieren sie ihren Job oder ihre engsten sozialen Beziehungen für etwas Spaß – einfach um zu fühlen, dass sie am Leben sind. Und so versichern sich in gewisser Weise auch die kleinen Tierquäler ihrer eigenen Lebendigkeit. Sie wollen spüren, dass sie Macht haben; sie finden damit innerhalb ihrer Peer-Group Anerkennung, der irgendwelche von außen schwer nachvollziehbare Kriterien von Coolness und dergleichen zugrunde liegen.
Ähnliches lässt sich auch über das Hunderitual in Brodivolo sagen oder über das Erste-Früchte-Fest der Zulu, genauso übrigens über die heimische Jagd. Kaum ein Jäger würde sagen, er empfinde Spaß beim Verwunden und Erschießenvon Tieren. Dennoch verbindet er anscheinend irgendeine Befriedigung mit dem Verfolgen, Überwinden und Töten anderer Wesen. Man fühlt sich lebendig, natürlich, stark; tut dies in einem sozialen Rahmen mit bestimmten Ritualen, die einem Anerkennung gewähren und das Gefühl dazuzugehören.
Am Rande des niedersächsischen Dorfes, in dem ich wohne, baut sich manchmal im Sommer ein halbes Dutzend junger Männer auf. Sie sitzen da alle zehn, zwanzig Meter, jeder auf einem Klapphockerchen, neben sich ein Kasten Bier. Sie warten auf das Wild, das andere ihnen entgegentreiben werden. Man könnte meinen, dass es für gesunde junge Männer schönere Arten geben müsste, einen gemeinsamen Samstagnachmittag zu verbringen, als angetrunken auf Rehe zu schießen. Doch sogar die Treibjagden, die für Tiere ein unglaubliches Maß an Panik und Verletzung bedeuten, gelten unserem Gesetzbuch nicht als grausam, sondern als «waidgerecht»: eine ehrwürdige Tradition.[ 3 ]
Zumindest die heimische Tradition hat im moralischen Kontext ein deutlich besseres Standing als etwas, das wir nur zum Spaß tun; weswegen es sich im Allgemeinen als günstig erweist, wenn man für den Spaß eine Tradition als Kronzeugin benennen kann. Oder etwas anderes Höheres, wie den Beruf oder den Beitrag zur Vermehrung des Wissens der Menschheit. Manchmal quälen Kinder Tiere und erklären, sie
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