Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
hat dieses Phänomen lange Zeit weitgehend ignoriert und so getan, als sei das Attribut «Mensch» gleichbedeutend mit erwachsen, autark, zurechnungsfähig. Vor allem die feministische Kritik in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts hat deutlich gemacht, dass das so eigentlich gar nicht stimmt. Wir Menschen sind bedürftige, verletzliche körperliche Wesen, jeder von uns.[ 31 ] Ein Teil von uns Menschen ist zudem hinreichend stark, rational und zurechnungsfähig, um sich darüber Rechenschaft abzulegen, wie wir den Bedürfnissen anderer Rechnung tragen sollen.
Und obwohl man im Allgemeinen so spricht, als seien zuerst die Rechte da und dann die Pflichten, verstehe ich es darum doch eher andersherum: Tatsächlich ist der moralische Akteur (oder die Gemeinschaft der Akteure) die Quelle moralischer Rechte. Moral entsteht erst in der Interaktion eines Subjekts mit einem potentiellen Gegenüber. Das wird besonders deutlich, wenn man den großen Kreis der moralischen Objekte einmal losgelöst von einem moralischen Akteur betrachtet. Zum Beispiel ist es doch nicht so, dass auf dieser Erde Millionen und Abermillionen von Rehen, Igeln und Pinguinen umhüllt von einer imaginären Blase namens «unveräußerliche Rechte» herumlaufen; und plötzlich stößt solch ein Reh, Igel oder Pinguin auf einen Menschen – und hat endlich jemanden gefunden, der seine Rechte respektiert. Vielmehr stellt sich die Frage von Rechten und Pflichten überhaupt erst, wenn ein moralischer Akteur auf ein anderes empfindungsfähiges Lebewesen stößt und sich fragen muss:Wie gehe ich nun moralisch angemessen mit diesem Wesen um?
Es sind zwar die Nöte, Bedürfnisse oder Wünsche des Objekts, die die Aufmerksamkeit des Subjekts erregen bzw. zu denen es sich irgendwie verhalten muss, aber die moralische Überlegung, das Sich-in-Beziehung-Setzen beginnt eben bei dem Subjekt. Es mag die Kuh im Schlachthof sein, ihr verzweifelter Blick, wenn der Arbeiter das Bolzenschussgerät ansetzt, ihre heraushängende Zunge, ihr bedauernswertes Zusammensinken, die die vorübergehende junge Frau in ihren Bann gezogen haben. Doch es ist diese Frau, die diese Situation in eine moralische Frage transformiert: Ist es in Ordnung, wenn für das, was ich mir auf mein Brot lege, ein anderes Wesen so leiden muss?
Diese Überlegungen stellt natürlich kein moralisch Handelnder alleine an. Moral ist – wie jede Kulturtätigkeit – keine solitäre Angelegenheit. Die Überlegungen, was wir dem anderen schulden, finden auf der Grundlage etlicher weiterer Vorstellungen über recht und billig statt; wir haben ein Vorverständnis und einen breiten Konsens darüber, worauf andere ein Anrecht haben, wie weit man gehen darf, was zentrale Güter von Menschen und Tieren sind. Der Prozess moralischen Urteilens im praktischen Einzelfall ist eigentlich nur ein kleiner Ableger einer kollektiven Veranstaltung, in der zwar nicht alle ständig einer Meinung sind, in der man sich aber auf viele wesentliche Teile längst geeinigt hat. Das Recht auf Unversehrtheit, auf Eigentum, auf ein selbstbestimmtes Leben – all dies sind grundlegende Rechte, die jeder Einzelfallüberlegung vorausgehen. Die moralischen Auffassungen, die ich hier anführe, haben – über etliche Meinungsunterschiede im Detail hinaus – eine breite Basis, die selbst Ergebnis früherer Diskussionsprozesse unserer heutigen modernen westlichen Gesellschaften und ihrer Vorläufer ist.
Um noch einmal zusammenzufassen, wie man sich meiner Meinung nach den «hoffnungslos unklaren» Begriff desRechts vorstellen sollte: Menschen und Tiere sind bedürftige, verwundbare, von Wünschen getriebene, empfindende, Ziele verfolgende Lebewesen, die ihr Leben um ihrer eigenen Zwecke willen leben. Unsere moralische Antwort auf die sich daraus ergebende Herausforderung ist eine Art Selbst-Verpflichtung, in das Leben anderer nicht unmäßig, willkürlich und schädigend einzugreifen. Gedanklich vervollständigt wird diese Einsicht, dass wir dies nicht dürfen, von derjenigen, dass die anderen ein Recht darauf haben, dass wir dies nicht tun. Wir gestehen also einander und weiteren Lebewesen, die selbst keine moralischen Subjekte sind, Rechte zu – auf Unversehrtheit, Selbstbestimmung etc.; und sobald wir diese zugestanden haben, sind sie auch tatsächlich bindend. Wir selbst setzen diese Rechte in Kraft, die ihre Kraft damit auch uns selbst gegenüber entfalten.
Vielleicht sollte ich präzisieren, dass es in der Ethik und
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