Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Buches. Für diesen Menschen gibt es schlicht keine Tierethik. (Darum würde er auch nie bis hierher lesen, und ich erlaube mir, seine Position zu übergehen.)
Der radikale Speziesist wiederum billigt laut Ach Tieren zwar moralische Ansprüche zu, gibt aber
immer
dem menschlichen Interesse den Vorrang, selbst wenn ein noch so triviales menschliches Interesse gegen das eines Tiers steht. Die überwältigende Mehrheit unserer Mitmenschen scheint diese Position nicht zu teilen, wenn sie zum Beispiel Tierversuche für Kosmetika ablehnt. Was Ach nicht bedacht zu haben scheint: Ein radikaler Speziesist müsste sogar mutwillige Tierquälerei erlauben, wenn diese dem Sadisten Vergnügen bereitet. Damit hätte dieser Mensch ja ein «Interesse» an sadistischem Vergnügen, und die Qual des Tieres müsste zurückstehen.[ 6 ]
Interessant ist daher eigentlich nur der Fall des milden Speziesisten: Dieser gibt der eigenen Spezies nur dann den Vorzug, wenn gleichermaßen vitale Interessen bei Mensch und Tier auf dem Spiel stehen. – Doch muss es immer verwerflich sein, der eigenen Gruppe, den Familienmitgliedern und Vertrauten eine besondere Behandlung zukommen zu lassen? Offensichtlich gibt es auch spezielle Pflichten in Bezug auf die eigenen Kinder, Freunde und andere Nahestehende. Manchmal macht bereits die rein geografische Nähe einen Unterschied: Wenn eine Nachbarin einen Wasserrohrbruch hat, sollte ich meine Hilfe anbieten; wenn Frau XY in Hintertupfingen einen Wasserrohrbruch hat, werde ich davon nicht einmal erfahren, und es wird auch nichts von mir erwartet.[ 7 ]
Neben diesen besonderen Pflichten oder Tugenden haben wir aber auch eine verständliche Voreingenommenheit fürdie uns Nahestehenden. Bernard Williams hat eine solche Situation einmal beschrieben und gemeint, wenn man hier völlige Unparteilichkeit anstrebe, denke man «einen Gedanken zu viel» (one
thought too many
).[ 8 ] Und zwar bat er, man möge sich einen Mann vorstellen, der bei einem Schiffbruch die Möglichkeit hat, entweder seiner Ehefrau oder einem Fremden das Leben zu retten. Dem Mann, der jetzt noch exakte moralphilosophische Überlegungen anstellen würde, wen von beiden er retten soll, würde man vorwerfen, er denke zu lange nach. Unnötig lange, vielleicht sogar schändlich lange. Ein guter Ehemann rettet selbstverständlich seine Frau, und niemand wird ihm einen Vorwurf machen.
Dieses Konzept lässt sich in gewissem Maß auch auf Menschen und Tiere übertragen. Ein Mensch, der sich für die Rettung entweder eines Menschen oder eines Tiers zu entscheiden hat, wird sich vermutlich für den Menschen entscheiden, zum Beispiel, weil er sich dem Menschen näher fühlt. Er hat die Hinterbliebenen vor Augen, die trauern würden, und er weiß vielleicht, womit dieser Mensch sein Leben gefüllt hat und gerne weiter füllen würde. Im Falle des Tieres kann er sich das vielleicht weniger gut vorstellen.[ 9 ]
Außer natürlich, man ist Patricia Highsmith. Highsmith sagte einmal, wenn sie ein hungriges Baby und ein hungriges Kätzchen auf der Straße sehen würde und sich unbeobachtet wüsste, würde sie zuerst das Kätzchen füttern.[ 10 ] Ehrlich gesagt, habe ich lange nicht verstanden, wie sie das gemeint hat: Fand sie Menschenkinder einfach unsympathisch? Erst in letzter Zeit habe ich überlegt, dass ich die Position vielleicht verstehen kann, indem ich sie auf meine persönliche Situation übertrage. Ich lebe in sehr engem Verbund mit einer Herde von vierzig Schafen. Ihr Stall ist direkt neben meinem Haus, ich füttere und versorge sie, ich kenne ihre Geräusche beim Aufwachen (sie dehnen sich ächzend wie ein morgenmuffeliger Mensch), ich erkenne ihre individuellen Eigenheiten, habe mehrere Lämmer mit der Flasche aufgezogenund schon viele Stunden damit verbracht, bei ihnen im Stroh zu hocken und diejenigen zu streicheln, die vorbei kamen und dies einforderten (am meisten der verschmuste kleine Domino). Kurzum, Schafe sind mir äußerst vertraut.
Wenn ich jetzt also übers Meer führe und einen Menschen und ein Schaf mit im Boot hätte und beide über Bord gingen – wen würde ich dann retten? Abgesehen davon, dass es bereits Tierquälerei wäre, das Tier in das Boot zu verfrachten, könnte ich mir trotz aller Schafsliebe gut vorstellen, dass ich den Menschen retten würde. Oder vielleicht doch nicht? Wenn ein fremder Mensch und mein Domino über Bord gingen, dann gälte meine Sorge intuitiv vielleicht zunächst Domino. Genau das ist die
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