Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
in Lebensgefahr zu sein. Die hier gemeinten «vitalen» Interessen umfassen also auch die Freiheit von (zumindest starken) Ängsten und Schmerzen.[ 12 ]
Welche Leiden erwarten ein Versuchstier bei einem medizinischen oder pharmazeutischen Versuch? Häufig wird vergessen, dass zu den akuten Schmerzen – bei einer Operation der Eingriff selbst, bei einem toxikologischen Test die Symptome der Vergiftung etc. – noch vier weitere Belastungen hinzukommen: Erstens muss das Tier den Wundschmerz (oder den Schmerz des zugefügten Knochenbruchs, derAmputation oder des beschädigten Organs) noch viele Tage oder Wochen ertragen, selbst wenn die (meisten) operativen Eingriffe unter Narkose erfolgen. Oft macht man sich auch nicht klar, wie viele Eingriffe zum Beispiel die Zucht transgener Tiere erfordert, die als «Ausgangsmaterial» so vieler Versuche verwendet werden; das liegt teils schon an der nüchternen Art und Weise, mit der wir darüber sprechen oder die wir in den Zeitungen lesen. Aber: Um DNA zu «gewinnen», um Zygoten «herzustellen» und Genmaterial zu «transferieren», werden Tiere hormonell behandelt, operiert, seziert, vasektomiert und/oder bekommen befruchtete Eizellen entnommen oder Embryonen implantiert.[ 13 ]
Zweitens muss man bedenken, dass der Versuch für das Tier in fast 100 Prozent der Fälle mit einem gewaltsamen und, gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung der jeweiligen Spezies, verfrühten Tod endet. Ich werde oft gefragt, was eigentlich «nach den Versuchen» mit den Tieren geschieht. Das ist recht einfach zu beantworten: Es gibt für sie kein Leben «nach den Versuchen». Sie werden nicht zunächst krank gemacht, dann geheilt und etwa in ein Altersheim gebracht. Wenn sie nicht direkt an den entsprechenden Stoffen oder Krankheiten sterben, werden sie in aller Regel getötet (bei Operationen bisweilen in der Narkose bereits eingeschläfert) und seziert.
Drittens stellt bereits die Haltung der Tiere im Labor eine gewaltige Belastung dar. Theoretisch sollten sozial lebende Tiere in Gruppen gehalten werden, aber wenn bestimmte sterile Bedingungen erforderlich sind, ist Einzelhaltung Standard.[ 14 ] Laut Tierversuchsrichtlinie steht zwei oder drei gemeinsam gehaltenen Mäusen eine Fläche von 330 Quadratzentimetern zu. Das ist doppelte Postkartengröße; die Hälfte des Käfigs muss 12 cm hoch sein. Angesichts solcher Platzverhältnisse ist es rätselhaft, welchen Wert eine Absichtserklärung wie die folgende, ebenfalls aus der EU-Tierversuchsrichtlinie, haben kann: «Alle Tiere sollten überRäume mit hinreichender Komplexität verfügen, um eine große Palette arttypischer Verhaltensweisen ausleben zu können.»[ 15 ]
Viertens bedeuten unter Laborbedingungen auch an sich harmlose Handlungen erheblichen Stress für ein Tier. «Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass allein schon das Hochheben einer Maus bei dem Tier eine Reihe von Körperreaktionen hervorruft. Stresshormone im Blut steigen, der Puls rast, der Blutdruck geht in die Höhe. Diese Symptome sind noch nach einer Stunde nachweisbar. Auf Routineeingriffe wie Blutentnahmen und Zwangsfütterung mit einer Magensonde reagieren die Tiere mit Angst und Panik.»[ 16 ] – Man möchte allerdings gar nicht wissen, in was für einer Studie das herausgefunden wurde. Es gehört zur bitteren Ironie der Tierversuchsdebatte, dass sogar die Forschungsergebnisse, die künftigen Labortieren Belastungen ersparen sollen, meist auf Kosten jetzt lebender Tiere gewonnen wurden.
Zu diesen vier teils immensen Belastungen kommen dann erst die eigentlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen der Versuche hinzu. Auch hier neigt man oft zu einer Art Wunschdenken. Viele Menschen kennen aus den 1980er Jahren Anti-Tierversuchsaufkleber mit den Fotos von Laborkaninchen oder von Affen mit im Hirn implantierten Elektroden – und denken, diese Praktiken seien so barbarisch, das sei alles lange her. Doch all diese berühmt-berüchtigten Versuche werden hier und heute weiterhin gemacht. Der LD50-Test, bei dem eine zu prüfende Substanz mehreren Tieren in unterschiedlicher Dosis injiziert wird, ist bis heute ein Standardtest, um die mittlere tödliche Dosis von Chemikalien (für diese Tierart) zu bestimmen. Und neurophysiologische Versuche an Affen machen es zum Messen der Gehirnströme nun einmal erforderlich, dass die Tiere, denen Elektroden implantiert wurden, still sitzen; weil sie das nicht von selbst tun, wird ihnen ein Bolzen am
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