Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Situation, die Williams beschreibt: ein fremdes Individuum, das moralisch zu berücksichtigen ist, und eines, das mir nahe steht, unabhängig davon, ob Mensch oder Tier.
Anders wäre die Situation natürlich, wenn der fremde Insasse ein Kind wäre. Dieses Problem gilt schon für Bernard Williams. Nehmen wir an, seine Frau und ein ihm unbekanntes Kind drohten zu ertrinken – sollte er nicht allen etwaigen anderen Impulsen zum Trotz versuchen, sich zusammenzureißen und das Kind zu retten? (Vielleicht funktionieren menschliche Instinkte ohnehin so, ich weiß es nicht.) Und was, wenn ein erwachsener Mensch und ein Lamm über Bord gegangen sind?
Ich weiß nicht, wie es dem Leser geht, aber mir fällt es zunehmend schwer, mir diese Situationen auszumalen. Es ist eine schlechte Angewohnheit von Philosophen, sich Extremsituationen auszudenken, die dann leider so extrem sind, dass man mit seiner Weisheit schnell am Ende ist. Ich habe jetzt bereits mit einem Schaf eine Schiffsreise angetreten, es über Bord gehen lassen und wieder hereingeholt. In anderen moralphilosophischen Diskussionen entgleisen ganze Straßenbahnen, und zufällig steht man selbst neben dem Hebel, der die Weichen umstellt; oder eine Höhle läuftmit Wasser voll, und die Stelle, wo das Wasser eindringt, lässt sich nur mit dem Körper eines dicken Menschen stopfen.[ 11 ] Ganze Regalreihen könnte man mit philosophischer Literatur füllen, die sich von der Fantasie hat inspirieren lassen, was wäre, wenn ein isoliertes Gehirn in einem Tank ganz ohne Sinne und Körper überleben könnte.
Im Grunde sind diese Beispiele recht sinnlos, denn: Wenn Hirne in Tanks überleben könnten, dann wären Menschen ganz andere Wesen, als sie nun einmal sind. Folglich müssten wir unsere ganze Moralauffassung (und vieles Weitere an unserer Selbst- und Weltsicht) so stark verändern, dass wir mit den bisherigen Kategorien ohnehin nicht mehr weiterkämen. Die uns vertraute Moral ergibt sich genau daraus, dass Menschen und Tiere eben viel mehr – und dabei zugleich stärker und verletzlicher – sind als Hirne im Tank.
Lassen wir also Schafe und Philosophen ungestört in Oxford rudern und kommen zu den Tierversuchen und dem Speziesismus zurück. Es gibt offenbar Gründe für einen milden Speziesismus, der diese Bezeichnung insofern nicht ganz verdient, als er sich nicht bloßer Voreingenommenheit für die eigene Spezies verdankt. Ich werde die Frage des Speziesismus an späterer Stelle noch einmal aufnehmen, doch für die Frage der Tierversuche können wir auf der Basis fortfahren, es sei vorausgesetzt, ein milder Speziesismus sei zulässig.
Leider gibt Ach, von dem der Begriff des milden Speziesismus übernommen ist, nicht an, wie milde – oder doch rabiat – ein milder Speziesist nun eigentlich ist. Stellen wir uns eine Skala vor, auf der wir die Bedeutung bestimmter Interessen mit einem farbigen Balken markieren. Die Skala geht von null bis zehn. Beim radikalen Speziesismus würden menschliche Interessen vom Wert zwei bis zu dem Wert zehn reichen. Der Balken für die tierischen Interessen reicht dann nur von der Null bis kurz vor die Zwei.
Laut einer vollständig egalitaristischen Position wiederum, in der menschliche und tierische Interessen exakt gleichgewichtet würden, begännen beide Balken an derselben Stelle und liefen bis zum selben Wert nebeneinander. Bei einer milde speziesistischen Position würde der Balken der Tiere nicht ganz so weit reichen wie der der Menschen: Sagen wir, die Interessen der Menschen erreichten den Wert zehn, die der Tiere immerhin noch neun oder acht. – Doch dies ist nur ein Modell zur Veranschaulichung. Einmal ganz abgesehen davon, mit welchem «Abstand» die Interessen beider Seiten ins Verhältnis zu setzen sind: Was steht denn überhaupt für beide auf dem Spiel?
Vitale Interessen und gravierende Belastungen
Bisher habe ich von «vitalen Interessen» gesprochen, ohne diese zu definieren. Man denkt zunächst einmal an Bedürfnisse wie die nach Nahrung, Luft und Schlaf – alles, was für das Leben und Weiterleben eines Organismus zentral ist, im Unterschied etwa zu reinen Komfort- oder Luxus-Gütern. Allerdings kann immense subjektive Qual auch zugefügt werden, ohne dass das Überleben oder die körperliche Gesundheit auf dem Spiel stehen. Die Geschichte der Folter führt das leider hinreichend vor, man denke an das Water-boarding, bei dem der Gefolterte die Schrecken des Ertrinkens wieder und wieder durchleben muss, ohne je
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