Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Tieren zunächst einmal schuldig, das ihnen Zugemutete als das zu benennen, was es ist: eine schwere Belastung.
Wie abwägen?
Ich gebe zu: Als ich vor einigen Jahren mit der Arbeit an diesem Buch begann, war ich noch unsicher, wie ich die Frage der Tierversuche sehen sollte. Ich war Vegetarierin, sogar Veganerin, ich liebte Tiere – und trotzdem. Bei Kosmetika achtete ich darauf, dass sie nicht an Tieren getestet waren; bei Putzmitteln verdrängte ich die Problematik; und in der Grundsatzfrage hatte ich mich – wohl aus Sorge, es «nicht zu übertreiben» – bei der mutmaßlichen Haltung der Mehrheit eingependelt, dass es zwar viele grausame und überflüssige Versuche gibt, aber auch andere, die notwendig und gleichzeitig gerade noch zumutbar sind.
Ich hatte angenommen, dass sich die Rechtfertigung von Tierversuchen und insbesondere die Unterscheidung, welche in Ordnung seien, knifflig gestalten könnte. Andererseits
müsste
es wohl gute Gründe für Forschung an Tieren geben: Schließlich haben wir Ethikkommissionen, und die Experimentatoren selbst sind ja auch keine Sadisten. Wenn ich mich nur genügend in die Materie vertiefte, würde ich diese guten Gründe finden, die Tierversuche zwar als etwasTragisches, aber dennoch moralisch Zulässiges, sogar Notwendiges erscheinen ließen.
Es kam anders. Ich bekam immer mehr den Eindruck, dass wir uns schlicht nicht gerne klarmachen, was für umfassende Eingriffe in Körper und Wohlbefinden und in die natürlichen Lebensfunktionen der Tiere fast alle Versuche tatsächlich verlangen. Und Tierexperimentatoren geht es anscheinend ähnlich. Vor gut zehn Jahren evaluierte der Münchener Mikrobiologe Toni Lindl die Angaben von Experimentatoren. Dabei «wurde das Leid der Tiere von der Mehrzahl der Experimentatoren als zu niedrig eingestuft. Auf den Formularen zur Genehmigung von Tierversuchen wurden ‹keine›oder ‹geringe Schmerzen› angegeben, obwohl erhebliche Schmerzen zu erwarten waren. … Zwei Drittel der Experimentatoren setzten den Belastungsgrad zu niedrig an, kein einziger zu hoch.»[ 18 ] Wenn wir uns aber die Versuche selbst ansehen, plus deren schmerzhafte Folgen, plus das Leben in den Laboren, plus die Umstände des Todes, dann müssen wir sagen: Versuchstiere gehen nicht nur durch die Hölle, sie leben in ihr. Schon wenn man diese Ausgangsbasis betrachtet, verringert sich die Wahrscheinlichkeit sehr, dass man irgendwelche Argumente findet, die das Zufügen von Leid in diesem Ausmaß rechtfertigen.
Wie sieht solch ein moralischer Rechtfertigungsprozess überhaupt aus? Wir sprechen davon, dass hier Interessen und Rechte der einen Seite gegen die der anderen abgewogen werden müssen. In der einen Waagschale liegen jetzt also enorme Belastungen für Millionen oder Milliarden von Tieren; was kommt in die andere Schale? Und vor allem: Wie ist diese «Waage» beschaffen?
Das Bild des Abwägens und der Waagschale ist insofern etwas irreführend, als das gesuchte Gleichgewicht ja nicht rein summarisch ist. Man kann Leid und Rechte nicht in Kilogramm messen, und es ist eben nicht so, dass jeder «schwere» Nutzen einen etwas «leichteren» Schaden an andererStelle rechtfertigen würde. Um ein berühmtes philosophisches Beispiel heranzuziehen (das ganz ohne Schafe und Philosophen auskommt): Nehmen wir an, in einem Krankenhaus liegen fünf schwerkranke Menschen, die dringend ein neues Organ benötigen. Glücklicherweise liegt in einem anderen Zimmer ein Patient, bei dem diese fünf Organe gesund sind. Wenn wir ihn töten und zerlegen, können wir auf Kosten seines einen Lebens fünf andere Leben retten. Dürfen wir?[ 19 ]
Obwohl in der einen Waagschale nun fünf Leben liegen und in der anderen nur eines, würden die meisten Menschen eine solche Rettungsaktion vehement ablehnen. Warum? Weil jedes Individuum ein Recht auf sein eigenes Leben hat, das der Allgemeinheit nicht beliebig zur Verfügung steht. Dieses Leben ist untrennbar an genau dieses Individuum geknüpft; Menschen und Tiere sind nicht nur Behälter einer bestimmten Summe von Leben (oder Organen), die man genauso gut beliebig auf andere Behälter verteilen kann.
Ebenso wenig ist ein Individuum ein Behälter einer bestimmten Quantität von Schmerz oder Wohlgefühl, der gleichsam im Universum herumschwebt und nur vorübergehend und zufälligerweise Aufnahme bei dem einen oder anderen Lebewesen gefunden hätte. Diese Vorstellung vermittelt die aus dem angelsächsischen Raum stammende Tradition des
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