Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
täuschen, rückblickend aber anzuführen, man habe ihm nicht anmerken können, dass es weiterleben wollte, ist ungefähr so plausibel wie der alten Dame das Geld zu klauen, während sie im Bad ist und nichts mitbekommt, und später zu sagen, sie habe nicht widersprochen.
Der Wunsch zu leben äußert sich für den Außenstehenden dann am deutlichsten, wenn sich ein Tier bedroht sieht: nicht nur im Fluchtverhalten, sondern bei vielen Spezies auch in Angst- und Todesschreien. Das ist kein schönes Thema, aber je mehr man mit Tieren zu tun hat, also wenn Krankheiten, Unfälle, Altersschwäche auftreten, desto eindringlicher bekommt man die ungeheure Zähigkeit, mit der selbst geschwächte und verletzte Tiere noch um ihr Leben kämpfen, vor Augen geführt. Vor einigen Jahren betrat ich zum ersten Mal einen Hühnerstall, dessen 10.000 Legehennen gerade zum Schlachter gefahren worden waren. Einige jedoch, zehn von 10.000, waren entkommen. Sie hatten sich in Ecken und Ritzen versteckt und sollten später von den Arbeitern des Reinigungstrupps getötet werden.
Diese Tiere, die gerade dem einen Tod entronnen waren und nun, ohne es zu ahnen, dem nächsten entgegengingen, taten mir leid, und ich fragte den Besitzer, ob ich sie mitnehmen dürfe. Er stimmte zu und gab den Arbeitern die Anweisung, sie für mich einzufangen. Als ich sie aus der Nähe sah, fragte ich mich kurz, ob das «noch lohnte» – für die Tiere. Sie sahen erbärmlich aus, ohne Federn, blass, abgemagert. Es war Winter, und sie froren wohl ziemlich. Aber als sie dann, an den Füßen hochgehalten, in den Händen derArbeiter baumelten, schrien sie dermaßen gellend, dass ich wusste: Egal, wie ich ihre Überlebenschancen einschätzte – sie wollten definitiv weiterleben. Also sollten wir es probieren. Und tatsächlich zeigte sich, auch in den kommenden Jahren, in denen ich immer wieder Hühner aus der Farm abholte, dass von diesen ausgemergelten Geschöpfen zwar ungefähr ein Drittel innerhalb der nächsten Wochen starb, die anderen aber noch etliche Monate und sogar einige Jahre weiterlebten.
Abgesehen davon, dass Tiere in Gefahrensituationen ihren Widerstand gegen den Tod zeigen, beweisen sie uns ihren Willen zu leben beinah tagtäglich auf viel unspektakulärere Weise. Zum Beispiel das Eichhörnchen, das für den kommenden Winter Nüsse vergräbt, und der Zugvogel, der sich einen Fettspeicher anfrisst: Es kann gut sein, dass beide nicht wissen, was sie erwartet. Gewiss werden sie abends nicht dasitzen und ausrechnen, wie viele Monate der Winter hat und wie viele Nüsse oder wie viele Kalorien sie dafür benötigen. In diesem Sinne handeln sie nicht bewusst planerisch.
Ich bin mir nicht sicher, ob man deswegen auch das Wort «Absicht» hier nicht verwenden darf, überlasse diese Feinheit aber darauf spezialisierten Philosophen. Doch eines sollte zumindest klar sein: Das Eichhörnchen, der Zugvogel und die Angehörigen von zigtausend weiteren Spezies vollziehen bewusst Handlungen, die einem Ziel dienen, das in ihrem eigenen Interesse liegt. Oft sind es sogar recht komplizierte, vielgliedrige Handlungsketten, deren Elemente erst vereint zu dem gewünschten Ergebnis führen. Es mag zwar sein, dass das Tier nicht jede dieser Handlungen in dem Bewusstsein vollzieht, dass sie zusammen genommen diesem Ziel dienen. Aber die Tiere vollziehen die Handlungen bewusst, also «sehenden Auges», unter Einsatz ihrer körperlichen wie kognitiven Kräfte, begleitet und unterstützt von bewussten Wahrnehmungen. Wenn wir das leugnen wollten,müssten wir wieder wie Descartes behaupten, Tiere seien nur Automaten.
In diesem Sinne tun Tiere viel, und zwar täglich, für ihr eigenes Fortkommen. Sie «arbeiten» sozusagen für ihr Leben und Überleben. Sie müssen nicht wissen, dass sie soundso viel Phosphor und Calcium benötigen. Aber sie nehmen es bei Bedarf auf, durch Rinde, Erde oder Minerallecksteine, und sorgen dafür, dass ihr Körper bekommt, was er benötigt. Anders als für uns Menschen in industrialisierten und stark arbeitsteiligen Gesellschaften, die wir uns meist eher mit Computern, verspäteten Bussen oder nervenden Anrufern herumschlagen, verbringen die meisten freilebenden Tiere täglich viel Zeit mit der Anstrengung, ihr Überleben und dazu vor allem ihre Ernährung zu sichern. Und damit
zeigen
sie, dass ihr basales Interesse ist zu überleben. Ein Wildschwein, das auf einer Treibjagd stundenlang vor Menschen und Hunden flieht, hat bereits hinreichend bewiesen,
Weitere Kostenlose Bücher