Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
«nächster Sommer» verfügt.
Der Wert des Lebens besteht nicht vorrangig im Ausführen von Zukunftsplänen, und jemand (ob Mensch, ob Tier)kann ein moralisches Recht auf etwas haben, ohne dass er abstrakt davon weiß. Recht pointiert schreibt der Schweizer Tierethiker Jean-Claude Wolf: «Im Unterschied zu Singer glaube ich nicht, dass rasche und schmerzarme Tötung nur Wesen schädigt, die zukunftsbezogene Wünsche haben. Vielmehr sehe ich darin eine willkürliche Überschätzung der Fähigkeiten zu planen und vorzusorgen – Fähigkeiten, die zwar für das Überleben unserer Spezies besonders wichtig sind, für andere dagegen nicht. Diese Überschätzung dient ganz offensichtlich dazu, Wesen mit Zeitbewusstsein moralisch zu privilegieren.»[ 24 ]
Wenn die einzigen Argumente gegen das Töten auf zukunftsbezogenen Interessen aufbauen sollten, stünde übrigens das Tötungsverbot nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Menschen auf wackeligen Beinen, insbesondere wenn sie Säuglinge, verwirrt, depressiv oder bekifft sind. In vielen Fällen könnte man das Tötungsverbot nur noch indirekt begründen, zum Beispiel indem man auf die Todesangst der Lebenden verwiese; deren harmonisches Zusammenleben kann nur gewährleistet werden, indem sie sich halbwegs sicher voreinander fühlen.[ 25 ] Das stimmt – aber ist dies der entscheidende Grund, warum wir die Lebenden nicht töten dürfen?
Das Tötungsverbot ist ein zentrales Element der Moral, und seine philosophische Erklärung muss in ihrer Form und Stärke der Bedeutung dieses Verbots entsprechen. Eine moralische «Begründung», die mithilfe etlicher Zusatzargumente nur indirekt plausibel machen kann, warum wir – Lebewesen, die den Tod scheuen wie kaum etwas anderes! – einander nicht töten dürfen, ist anscheinend nicht in der Lage, den Kern des Phänomens richtig zu erfassen. Daher stellt die gesamte Diskussion um zukunftsbezogene Interessen und Pläne in meinen Augen einen fruchtlosen Umweg dar, den ich mich nur nachzuvollziehen verpflichtet fühlte, weil er in der tierethischen Literatur oft auftauchte.[ 26 ] ImGrunde haben wir es nämlich wieder mit «einem Gedanken zu viel» zu tun. Warum ist es falsch, jemanden zu töten, oder inwiefern schädigen wir jemanden, wenn wir ihn töten? Vereiteln wir etwa seine Pläne, durchkreuzen wir sein zukunfts-bezogenes Denken? Ja, aber vor allem: Wir töten ihn. Das ist der Schaden.[ 27 ] Am Leben zu sein ist Bedingung für alles andere. Für jede Empfindung, jeden Wunsch, jeden Plan, jede Umsetzung, jede Handlung. Ihr Leben ist ein essentielles Gut der Lebewesen, und das nehmen wir ihnen, wenn wir sie töten.
Biologische Begründungen sind immer mit Vorsicht zu genießen, aber man sollte sich zumindest kurz vor Augen führen, dass biologisch gesehen der Wunsch zu leben oder das Interesse am Leben der basale Wunsch und das basale Interesse sind. Die Lust am Essen, am Sex, an der Ruhe, an der Bewegung – all das dient dem Weiterleben, nicht etwa umgekehrt. (Evolutionsbiologisch müsste es natürlich präzise heißen: das Interesse, so lange zu leben, bis hinreichend viele Nachkommen produziert wurden und einen lebensfähigen Zustand erreicht haben. «Hinreichend viele» bezieht sich auf die erfolgreiche Weitergabe der Gene. Diese Arithmetik ist allerdings nicht sehr präzise, und de facto heißt es daher meist: Bis auf diejenigen Spezies vielleicht, die nur einmal Nachkommen produzieren und dann sterben, wollen lebende Wesen zumeist auch unabhängig von der Anzahl ihrer Nachkommen weiterleben.)
Von der blinden Biologie nun zum Phänomen der Empfindungsfähigkeit: Die genannten Lebewesen mit ausgebildetem Nervensystem bekamen auch einen entsprechenden Lebenswunsch von der Natur «eingepflanzt». Es ist ja kein Zufall, dass alle Philosophen (oder auch Fleischesser), die die Legitimität der Tötung von Tieren verteidigen, immer wieder betonen, dies müsse dann nicht nur schmerzfrei, sondern auch angstfrei geschehen, denn jeder weiß: Todesangst ist beim Tier genauso ausgeprägt wie beim Menschen. Aber wasanderes offenbaren die Todesangst und das verzweifelte Bemühen, dem Tod irgendwie doch noch zu entgehen, wenn er sich nähert, als den Wunsch zu leben?
Wenn wir dem Tier die Todesangst nehmen, bevor wir es töten, nehmen wir ihm die subjektive Belastung der Angst; wir nehmen ihm allerdings auch die Möglichkeit zu signalisieren, dass es weiterleben will. Ein Tier zunächst über den nahenden Tod zu
Weitere Kostenlose Bücher