Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)

Titel: Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilal Sezgin
Vom Netzwerk:
ihnen nicht bewusst ist, dass es einen «nächsten Winter» gibt.
    Ich kann nicht beurteilen, ob das überhaupt zutrifft. Doch selbst wenn es so wäre, bliebe ein Rätsel, warum das Wissen, dass man etwas hat, dafür zentral sein soll, ob man dessen beraubt werden darf oder nicht. Immer, wenn Philosophen diese Variante des Zukunfts-Arguments erörtern,[ 18 ] fällt mir ein, was mir ein Freund einmal über seinen früheren Zivildienst erzählte. Er und ein Kollege mussten die Wohnung einer dementen alten Dame aufräumen und machten dabei ihr Bett. Unter der Matratze fanden sie einen riesigen Haufen Geldscheine. Sie überlegten, ob sie zumindest einen Teil des Geldes nehmen dürften; die alte Frau war nämlich bereits gut versorgt, sie wusste nichts von dem Geld, und sie brauchte es auch nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sich die beiden entschieden haben; doch selbstverständlichhätte es sich um Diebstahl gehandelt, selbst wenn die alte Frau ihn nicht bemerkt hätte. Es wäre übrigens auch Diebstahl gewesen, wenn die beiden das Geld erst nach dem Ableben der Frau gefunden und auch die Erben keine Ahnung von dem Schatz unter der Matratze gehabt hätten. Man kann Menschen unheimlich viel antun, ohne dass sie es merken – sie belügen, sie bestehlen, übel über sie reden, so dass sie eine bestimmte Arbeit nicht bekommen oder Freunde sich von ihnen abwenden; sie bemerken die Handlung nicht, aber sie hat für sie Folgen.[ 19 ]
    Natürlich ist das subjektive Empfinden des Schadens per definitionem größer, wenn das Wesen den Verlust auch vollständig empfindet. Der Schaden umfasst dann auch negative Gefühle des Verlusts oder des Ärgers. Das ist aber nicht das Entscheidende. Wir würden dies nicht in die Beschreibung des moralischen Vergehens aufnehmen, also nicht sagen: Er hat ihr ihre gesamten Ersparnisse genommen – und dann hat der Verbrecher sie auch noch traurig gemacht, weil sie es nämlich gemerkt hat! Das wäre eine absurde Beschreibung eines Diebstahls.[ 20 ]
    Wenn jemand hingegen getötet wird, ist natürlich nachher niemand mehr da, der seines Lebens beraubt wurde. So gesehen bringt der Tod einen Menschen um etwas, dessen Verlust er danach nicht mehr bemerkt. Er merkt es nicht nur nicht, er existiert auch nicht mehr. Es gibt keinen Geschädigten. Drastischer: Sobald wir jemanden ermordet haben, gibt es niemanden mehr, den wir ermordet haben.[ 21 ]
    Ich glaube, dass es letztlich diese paradoxe Feststellung ist, die so viele Philosophen ins Schwimmen bringt, wenn sie über den Tod beziehungsweise das Töten nachdenken.[ 22 ] Das liegt eben an diesem verwirrenden Faktum biologischen Lebens, dass es uns die allermeiste Zeit der Geschichte dieser Welt nicht gegeben hat, dann existieren wir kurz, und später nicht mehr.[ 23 ] Vielleicht hat dieses Paradox Philosophen dazu geführt, nach einer Brücke vom Gestern (Leben) zum Morgen(Tod) zu suchen; und diese Brücke glauben sie in den Zukunftsplänen gefunden zu haben. Aber mit dem Verweis auf bewusste Zukunftsinteressen kann der Brückenschlag nicht gelingen.
Vom Wert des Lebens
    Um das Vorhergehende noch einmal kurz zusammenzufassen: Bei meinem Versuch, das Zukunftsargument zu rekonstruieren, habe ich zwei verschiedene Varianten ausgemacht. In der ersten bestünde das Lebensrecht des Menschen (nicht aber eines Tiers) darin, dass der Mensch zukunftsbezogene Pläne hat. In dieser Form ist das Argument nicht besonders belastbar, weil wir auch bei unterschiedlichen Menschen und in unterschiedlichen Lebenssituationen mal mehr, mal weniger, mal edlere, mal schäbigere, mal intensive und mal laue Pläne feststellen können. Nichts davon lässt sich auf den «Wert» dieses Lebens umrechnen. Sogar ein Mensch, der momentan keinerlei Pläne für seine Zukunft hat, hat ein Recht auf diese Zukunft. Genauso ist es auch beim Tier.
    In einer zweiten Variante würde das Argument darauf beruhen, dass der Mensch
weiß,
dass er eine Zukunft besitzt. Allerdings ist das Wissen um eine Schädigung auch bei anderen Formen von Schädigungen nicht das Kriterium dafür, ob ein moralisches Problem vorliegt. Wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter bei der Arbeit toxischen Stoffen aussetzt, die Asthma verursachen, schädigt es diese Mitarbeiter, auch wenn jahrzehntelang niemand einen Zusammenhang zwischen Arbeitsplatz und Asthma herstellen kann. Es wäre insofern rätselhaft, warum man einem Tier das Leben nehmen dürfte, nur weil es nicht über Begriffe wie «Zukunft» oder

Weitere Kostenlose Bücher