Arthur & George
Wäre er von einem Moment zum anderen in ein schneebedecktes Hochtal der Alpen versetzt worden, könnte ein eiskalter Wind vielleicht den Pesthauch um seine Seele vertreiben. Doch das scheint unmöglich. Der Mensch, der er einst war, der Sportsmann, der seine norwegischen Ski nach Davos mitnahm und mit den Gebrüdern Branger den Furggapass überquerte, scheint längst verschwunden, längst auf der anderen Seite des Berges und außer Sicht zu sein.
Als seine Gedanken endlich in ihrem Niedergang innehalten, als er sich in Geist und Gedärm nicht mehr so fiebrig fühlt, will er in seinem Kopf eine Lichtung schlagen, um einen kleinen Bereich für einfaches Denken zu schaffen. Wenn ein Mann nicht weiß, was er tun will, dann muss er herausfinden, was er tun sollte. Wenn das Verlangen zu kompliziert geworden ist, dann hält man sich an die Pflicht. So war es bei Touie, und so muss es jetzt bei Jean sein. Er hat sie neun Jahre lang hoffnungslos und hoffnungsvoll geliebt; so ein Gefühl kann nicht einfach verschwinden; also muss er auf seine Rückkehr warten. Bis dahin muss er sich seinen Weg durch den großen Grimpen-Sumpf bahnen, wo mit grünem Schaum bedeckte Schlünde und tückische Moräste auf allen Seiten drohen, einen Mann in die Tiefe zu ziehen und auf ewig zu verschlingen. Um seinen Weg zu finden, muss er sich auf alles besinnen, was er bisher gelernt hat. Im Grimpen-Sumpf gab es versteckte Zeichen – Schilfbüschel und strategisch aufgepflanzte Stöcke –, die Eingeweihte auf festeren Boden leiteten; und so ist es auch, wenn ein Mann sich moralisch verirrt hat. Die Ehre wird ihn auf den rechten Pfad führen. Die Ehre hat ihn in den vergangenen Jahren in seinem Verhalten geleitet; nun muss die Ehre ihm zeigen, wohin er zu gehen hat. Die Ehre bindet ihn an Jean, wie sie ihn an Touie band. Aus dieser Entfernung kann er nicht erkennen, ob er je wieder wahrhaft glücklich sein wird; doch er weiß, für ihn kann es kein Glück geben, wo keine Ehre ist.
Die Kinder sind in der Schule; im Haus ist es still; Winde fegen die Bäume kahl; der November geht in den Dezember über. Er fühlt sich etwas gefestigter, ganz wie man es ihm vorausgesagt hat. Eines Morgens schlendert er in Woods Büro, um einen Blick auf seine Korrespondenz zu werfen. Im Durchschnitt bekommt er sechzig Briefe am Tag. Wood musste in den letzten Monaten ein System entwickeln: Alles, was sofort erledigt werden kann, beantwortet er selbst; was Sir Arthurs Stellungnahme oder Entscheidung erfordert, wird in einen großen hölzernen Ablagekasten getan. Wenn sein Brotherr sich bis zum Ende der Woche nicht überwinden oder ermannen konnte, ihm Weisung zu geben, arbeitet Wood den Inhalt nach bestem Wissen und Gewissen selbst ab.
Heute liegt ein kleines Päckchen ganz oben in dem Kasten. Arthur schiebt den Inhalt halbherzig heraus. Da ist ein Begleitschreiben an einen Ordner mit Ausschnitten aus einer Zeitung namens The Umpire geheftet. Von dieser Zeitung hat er noch nie gehört. Vielleicht hat es etwas mit Cricket zu tun. Nein, an dem rosa Zeitungspapier erkennt er, dass es ein Skandalblatt ist. Er wirft einen Blick auf die Unterschrift unter dem Brief. Er liest einen Namen, der ihm absolut nichts sagt: George Edalji.
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Drei
Ende mit einem Anfang
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Arthur & George
Seit Sherlock Holmes seinen ersten Fall aufgeklärt hat, kommen ständig Bitten und Anfragen aus aller Welt. Wenn Menschen oder Gegenstände unter mysteriösen Umständen verschwinden, wenn die Polizei noch ratloser ist als sonst, wenn Justitia auf Irrwege gerät, dann wendet sich die Menschheit anscheinend instinktiv an Holmes und seinen Schöpfer. Briefe mit der Anschrift Baker Street 221 B werden von der Post schon automatisch mit dem Stempel EMPFÄNGER UNBEKANNT versehen und zurückgeschickt; dasselbe gilt für solche an Holmes c/o Sir Arthur. Alfred Wood staunt im Laufe der Jahre immer wieder über seinen Brotherrn, der stolz ist, eine Figur erschaffen zu haben, an deren wahre Existenz die Leser ohne weiteres glauben, sich aber ärgert, wenn sie diesen Glauben logisch umsetzen.
Darüber hinaus gibt es Bittgesuche, die an Sir Arthur Conan Doyle in eigener Person gerichtet sind und in der Annahme geschrieben wurden, wer so intelligent und gerissen sei, dass er derart verzwickte fiktive Verbrechen ersinnen könne, der müsse auch das nötige Rüstzeug haben, reale Verbrechen aufzuklären. Das imponiert Sir Arthur bisweilen, oder es rührt ihn, und dann antwortet er, allerdings
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