Arthur & George
vorgekommen, und das umso mehr, je berühmter er wurde. Er wird als großer Mann seiner Zeit gefeiert, doch obwohl er die Welt aktiv mitgestaltet, scheint sein Herz in einem anderen Rhythmus zu schlagen. Jeder normale Mann seiner Zeit hätte keine Skrupel gehabt, Jean zu seiner Geliebten zu machen. Das war heutzutage so üblich, selbst in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, wie er beobachtet hat. Doch seine Moralvorstellungen passen eher ins vierzehnte Jahrhundert. Und wo lebt er geistig und seelisch? Connie hielt ihn für einen Frühchristen. Er sieht sich eher in der Zukunft. Im einundzwanzigsten Jahrhundert, im zweiundzwanzigsten? Das hängt ganz davon ab, wie schnell die schlummernde Menschheit aufwacht und lernt, ihre Augen zu gebrauchen.
Und dann überschlagen sich seine Gedanken weiter auf ihrer ohnehin schon abschüssigen Bahn. Neun Jahre lang hat er das Unmögliche gewünscht – und versucht, sich diesen Wunsch nicht einzugestehen –, und nun ist er frei. Er könnte Jean morgen früh heiraten und hätte nichts weiter zu befürchten als das Geifern der Dorfmoralisten. Doch indem man das Unmögliche wünscht, kanonisiert man das Wünschen. Nun, da das Unmögliche möglich geworden ist, wie sehr wünscht er noch? Nicht einmal das weiß er jetzt. Es ist, als wären die Herzmuskeln, die so lange über Gebühr beansprucht wurden, zu mürbem Gummi geworden.
Er hat einmal eine Geschichte gehört, die beim Portwein erzählt wurde. Sie handelte von einem verheirateten Mann, der sich eine langjährige Geliebte hielt. Diese Frau war gesellschaftlich angesehen und hätte ihn ohne weiteres heiraten können, wie es auch immer erwartet und versprochen worden war. Schließlich starb die Ehefrau, und der Witwer war schon nach wenigen Wochen wieder verheiratet. Aber nicht mit seiner Geliebten, sondern mit einer jungen Frau aus einer niederen Gesellschaftsschicht, die er nur Tage nach der Beerdigung kennengelernt hatte. Damals hatte er auf Arthur wie ein doppelter Schuft gewirkt: ein Schuft seiner Frau gegenüber, dann ein Schuft gegenüber seiner Geliebten.
Nun erkennt er, wie leicht so etwas passieren kann. In den wirren Monaten seit Touies Tod ist er kaum in Gesellschaft gegangen und hat nur eine vage Erinnerung daran, wem er dort vorgestellt wurde. Dennoch – und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er das andere Geschlecht nicht versteht – haben einige Damen mit ihm geflirtet. Nein, das ist vulgär und ungerecht; aber sie haben ihn auf jeden Fall anders angeschaut, diesen berühmten Schriftsteller, diesen Ritter des Königreichs, der nunmehr Witwer ist. Er kann sich gut vorstellen, wie das mürbe Gummi plötzlich reißt, wie die Schlichtheit eines jungen Mädchens oder gar das parfümduftende Lächeln einer koketten Frau plötzlich in ein Herz stößt, das sich zeitweilig gegen eine lange und heimliche Bindung verschlossen hat. Er hat Verständnis für das Verhalten des doppelten Schufts. Mehr als Verständnis: Er sieht die Vorteile. Wer sich von einem solchen coup de foudre hinreißen lässt, der setzt zumindest der Lüge ein Ende: Er muss die lange geheim gehaltene Liebe nicht vorzeigen und als eine neue Gefährtin vorstellen, die er eben erst kennengelernt hat. Er muss seine Kinder nicht sein Leben lang belügen. Und was die neue Ehefrau angeht: Ja, sagt man, ich weiß, wie sie auf euch wirkt, und sie wird das Unersetzliche niemals ersetzen, aber sie hat meinem Herzen ein wenig Trost und Freude gebracht. Das führt vielleicht nicht umgehend zu der ersehnten Vergebung, aber die Situation ist zumindest weniger kompliziert.
Er sieht Jean wieder, einmal in Gesellschaft anderer und einmal allein, und jedes Mal dauert die Verlegenheit zwischen ihnen an. Er wartet darauf, dass sein Herz wieder zu pochen beginnt – nein, er befiehlt seinem Herzen, wieder zu pochen –, und es verweigert ihm den Gehorsam. Er ist so daran gewöhnt, seine Gedanken zu zwingen, sie vorwärtszudrängen und dorthin zu dirigieren, wo er sie haben will, dass es ihm einen Schock versetzt, mit zärtlichen Gefühlen nicht dasselbe tun zu können. Jean sieht so anbetungswürdig aus wie eh und je, nur löst ihre Anbetungswürdigkeit nicht die normale Reaktion aus. Anscheinend ist er von einer Impotenz des Herzens befallen.
In der Vergangenheit hat Arthur die Qualen der Gedanken durch körperliche Strapazen gemildert; doch er hat kein Verlangen zu reiten, zu boxen, auf einen Ball einzuschlagen, sei es beim Cricket, Tennis oder Golf.
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