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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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nur als Entschädigung für drei Jahre Ihres Lebens. Es ist auch ein Symbol. Die Briten haben Achtung vor dem Geld. Wenn Sie begnadigt werden, dann weiß alle Welt, dass Sie unschuldig sind. Aber wenn Sie zudem noch Geld erhalten, dann weiß alle Welt, dass Sie vollkommen unschuldig sind. Das ist ein riesengroßer Unterschied. Das Geld beweist auch, dass Sie überhaupt nur wegen der korrupten Untätigkeit des Innenministeriums im Gefängnis geblieben sind.«
    George überdenkt diese Argumentation und nickt dabei langsam vor sich hin. Sir Arthur ist von dem jungen Mann beeindruckt. Er scheint ein ruhiges und besonnenes Wesen zu haben. Von seiner schottischen Mutter oder seinem Vater, dem Geistlichen? Oder einer guten Mischung von beidem?
    »Sir Arthur, darf ich fragen, ob Sie ein Christ sind?«
    Nun ist Arthur erschrocken. Er will diesen Pfarrerssohn nicht verletzen, darum antwortet er mit einer Gegenfrage. »Warum möchten Sie das wissen?«
    »Ich bin, wie Sie wissen, im Pfarrhaus großgeworden. Ich liebe und achte meine Eltern, und als ich jung war, teilte ich selbstverständlich ihre Anschauungen. Wie hätte es anders sein können? Ich selbst hätte nie zum Priester getaugt, doch ich nahm die Lehren der Bibel als beste Richtschnur für ein aufrechtes und ehrbares Leben.« Er sieht Sir Arthur an und wartet, wie der reagiert; ein freundlicher Blick und eine Neigung des Kopfes ermuntern ihn. »Ich halte sie immer noch für die beste Richtschnur. Wie ich auch die Gesetze Englands für die beste Richtschnur halte, die der Gesellschaft im Allgemeinen ein aufrechtes und ehrbares Zusammenleben ermöglichen. Doch dann begann mein … mein Leidensweg. Zunächst betrachtete ich das alles als ein bedauerliches Beispiel für die falsche Anwendung der Gesetze. Die Polizei hatte einen Fehler gemacht, aber der würde vom Magistrates’ Court korrigiert. Der Magistrates’ Court hatte einen Fehler gemacht, aber der würde von den Quarter Sessions korrigiert. Die Quarter Sessions hatten einen Fehler gemacht, aber der würde vom Innenministerium korrigiert werden. Ich hoffe noch immer, dass er vom Innenministerium korrigiert wird. Das Ganze ist eine schmerzliche und, um das Mindeste zu sagen, unangenehme Erfahrung, doch letzten Endes führt der Rechtsweg zu Gerechtigkeit. Das glaubte ich bisher, und das glaube ich noch immer.
    Es ist aber komplizierter, als mir zunächst bewusst war. Ich habe immer mit den Gesetzen gelebt – das heißt, ich lasse mich von den Gesetzen leiten, während das Christentum mir moralischen Rückhalt bietet. Für meinen Vater jedoch …«, und hier hält George inne, nicht etwa, wie Arthur scheint, weil er nicht weiß, wie er fortfahren soll, sondern wegen des emotionalen Gewichts dessen, was er sagen will, »… mein Vater lebt voll und ganz in der christlichen Religion. Wie man es nicht anders erwarten würde. Darum muss ihm mein Leidensweg in diesem Rahmen verständlich sein. Für ihn gibt es eine religiöse Rechtfertigung für mein Leiden, es muss sie geben. Er meint, es sei Gottes Absicht, meinen eigenen Glauben zu stärken und anderen ein Beispiel zu geben. Es ist mir peinlich, das auszusprechen, aber er hält mich für einen Märtyrer.
    Mein Vater ist nun schon alt und wird allmählich gebrechlich. Und ich möchte mich ihm auch nicht widersetzen. In Lewes und Portland habe ich selbstverständlich den Gottesdienst besucht. Ich gehe noch immer jeden Sonntag zur Kirche. Aber ich kann nicht behaupten, ich wäre durch die Haft in meinem Glauben gestärkt worden, und …« – er lässt ein vorsichtiges, gequältes Lächeln erkennen – »… und auch mein Vater kann wohl nicht behaupten, die in St. Mark’s und benachbarten Kirchen versammelte Gemeinde sei in den letzten drei Jahren größer geworden.«
    Sir Arthur überlegt, wie seltsam förmlich diese einleitenden Worte klingen – als seien sie eingeübt, ja, übermäßig eingeübt worden. Nein, das ist zu schroff. Was sollte ein Mann während dreier Jahre im Gefängnis anderes tun, als aus seinem Leben – seinem verfahrenen, eben erst begonnenen, halb verstandenen Leben – etwas zu machen, das sich anhört wie eine Zeugenaussage?
    »Ihr Vater würde wahrscheinlich sagen, dass Märtyrer sich ihr Schicksal nicht aussuchen und womöglich gar nicht begreifen.«
    »Mag sein. Doch was ich eben gesagt habe, ist noch nicht die ganze Wahrheit. Die Haft hat meinen Glauben nicht gestärkt. Ganz im Gegenteil. Sie hat ihn, wie ich meine, zerstört. Mein Leiden

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