Arthur & George
Schuljungen zurück, der ihn für ein Kuckucksei hielt und in plump-dreister Ahnungslosigkeit, aber von heftigen Spekulationen und heftiger Verlegenheit erfüllt vor ihm stand. Und dann waren die Jahre vergangen, und Arthur kam auf ein paar gestohlene Stunden mit Jean allein nach Masongill. Und nun konnte Waller stillschweigend, ohne den leisesten Ton – was natürlich alles nur noch schlimmer, noch überheblicher machte –, nun konnte Waller moralisch Rache üben. Du hast gewagt, mich missbilligend anzuschauen? Du hast gewagt zu denken, du verstündest etwas vom Leben? Du hast gewagt, die Ehre deiner Mutter in Zweifel zu ziehen? Und jetzt kommst du her und benutzt deine Mutter und mich und das ganze Dorf als Deckmantel für ein Rendezvous? Du nimmst den Ponywagen deiner Mutter und fährst an St. Oswald’s vorbei, und neben dir sitzt deine Geliebte. Du meinst, das Dorf würde das nicht merken? Du bildest dir ein, der Mann, der bei deiner Hochzeit an deiner Seite stand, leide an Gedächtnisschwund? Du redest dir – und anderen – ein, dein Verhalten sei ehrenhaft?
Nein, er musste damit aufhören. Diese Spirale kannte er schon allzu gut, er kannte ihre verführerische Abwärtsbewegung und wusste genau, wohin sie führte: zu Lethargie, Verzweiflung und Selbstverachtung. Nein, er musste sich an erwiesene Tatsachen halten. Die Mama hatte sein Tun gebilligt. Und alle anderen bis auf Hornung auch. Waller hatte nichts gesagt. Touie hatte Mary lediglich vorgewarnt, damit sie keinen Schock bekam, falls er wieder heiraten sollte – die Worte einer liebevollen und fürsorglichen Ehefrau und Mutter. Mehr hatte Touie nicht gesagt und darum auch nicht gewusst. Mary wusste nichts. Seine Selbstquälerei nützte weder den Lebenden noch den Toten. Und das Leben musste weitergehen. Touie hatte das gewusst, und Touie hatte deswegen keinen Groll empfunden. Das Leben musste weitergehen.
Dr. Butter erklärte sich zu einem Treffen in London bereit; von anderer Seite hingegen kam wenig Ermutigendes. George hatte nie etwas in Walsall zu tun gehabt. Mr Mitchell, der Rektor der Schule von Walsall, teilte ihm mit, es habe in den letzten zwanzig Jahren keinen Schüler namens Speck bei ihnen gegeben; und sein Vorgänger, Mr Aldis, habe seinen Dienst sechzehn Jahre lang hervorragend verrichtet, und die Unterstellung, er sei denunziert oder gar entlassen worden, sei schierer Unsinn. Der Innenminister Mr Herbert Gladstone empfahl sich Sir Arthur hochachtungsvoll und lehnte nach mehreren Absätzen voller Schmeichelei und Geschwätz mit dem Ausdruck des Bedauerns jede weitere Überprüfung des bereits mehrfach überprüften Falles Edalji ab. Das letzte Schreiben stand auf dem amtlichen Briefbogen der Staffordshire County Police. »Sehr geehrter Herr«, begann es. »Ich bin äußerst gespannt, was Sherlock Holmes zu einem Fall aus dem wirklichen Leben zu sagen hat …« Doch der spaßhafte Ton war kein Ausweis von Kooperationsbereitschaft: Captain Anson war nicht geneigt, Sir Arthur irgendwie behilflich zu sein. Es sei noch nie vorgekommen, dass eine Polizeiakte einem gewöh n lichen Bürger ausgehändigt worden sei, auch wenn dieser noch so berühmt sein mochte; desgleichen sei es noch nie vorgekommen, dass einem solchen Bürger gestattet worden sei, dem Captain unterstellte Polizeibeamte zu befragen. Ja, da es Sir Arthurs offenkundige Absicht sei, die Staffordshire Constabulary in Misskredit zu bringen, könne ihr Chief Constable nicht erkennen, warum eine Zusammenarbeit mit dem Feind strategisch oder auch taktisch ratsam sein solle.
Arthur war die streitbare Unverblümtheit des ehemaligen Offiziers der Artillerie sympathischer als die heuchlerischen Phrasen des Politikers. Vielleicht konnte er Anson doch noch für sich gewinnen; seine militärische Ausdrucksweise bewog Arthur allerdings zu der Überlegung, ob er nicht, statt sich artig Schuss um Schuss mit seinen Gegnern auseinanderzusetzen – sein Experte gegen ihren Experten – lieber gleich schweres Geschütz auffahren und die feindliche Stellung im Sturm nehmen sollte. Ja, warum nicht? Wenn sie einen Handschriftenexperten hatten, würde er im Gegenzug mehrere beibringen: nicht nur Dr. Lindsay Johnson, sondern vielleicht auch noch Mr Gobert und Mr Douglas Blackburn. Und falls jemand Mr Kenneth Scott vom Manchester Square keinen Glauben schenkte, würde er George noch zu mehreren anderen Augenärzten schicken. Yelverton hatte eine Zermürbungstaktik verfolgt, die bis zu der Pattsituation
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