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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Krankenzimmer, ihr Sterbezimmer – er hatte sich stets bemüht, ihr alles so angenehm und schmerzlos zu machen, wie er nur konnte.
    Das hatte er sich gesagt – hatte es sich und anderen so oft gesagt, dass er es am Ende selbst glaubte. Hatte er sich fortwährend etwas vorgemacht? Denn dies war ebender Raum, in dem Touie wenige Wochen vor ihrem Tod ihrer Tochter erklärte, dass ihr Vater wieder heiraten werde. Als Mary ihm von diesem Gespräch berichtete, hatte er die Sache auf die leichte Schulter nehmen wollen – eine törichte Entscheidung, wie ihm nun klar wurde. Er hätte die Gelegenheit ergreifen sollen, Touie zu rühmen und zugleich das Terrain zu bereiten; stattdessen hatte er sich in Scherze geflüchtet und etwas gefragt wie: »Hatte sie eine spezielle Kandidatin im Sinn?« Worauf Mary sagte: »Vater!« Und die Missbilligung, mit der dieses Wort ausgesprochen wurde, war nicht zu überhören.
    Er schaute weiter aus dem Schlafzimmerfenster über den seit langem vernachlässigten Tennisplatz hinweg in das Tal, bei dem er einst in einer wunderlichen Anwandlung an ein deutsches Volksmärchen denken musste. Jetzt sah es nur noch wie eine Landschaft in Surrey aus. Er konnte dieses Gespräch mit Mary wohl kaum wieder aufnehmen. Doch eins stand fest: Wenn Touie damals Bescheid gewusst hatte, dann war er verloren. Wenn Touie Bescheid wusste und Mary Bescheid wusste, dann war er doppelt verloren. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte Hornung recht. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte die Mama unrecht. Wenn Touie Bescheid wusste, dann hatte er sich vor Connie aufgespielt wie ein elender Heuchler und die alte Mrs Hawkins schändlich hinters Licht geführt. Wenn Touie Bescheid wusste, dann war sein ganzes Konzept des ehrenwerten Verhaltens nichts als Schwindel. Auf den Hügeln über Masongill hatte er zu der Mama gesagt, Ehre und Unehre lägen so nahe beieinander, dass man sie kaum voneinander unterscheiden könne, und die Mama hatte geantwortet, genau das mache die Bedeutung der Ehre aus. Und wenn er nun die ganze Zeit über in der Schande herumgetappt war und sich selbst, aber niemandem sonst etwas vorgemacht hatte? Wenn die Welt ihn für einen ganz gewöhnlichen Ehebrecher hielt – und er das ebenso gut hätte sein können, selbst wenn er es nicht war? Wenn Hornung nun recht hatte und es keinen Unterschied gab zwischen Schuld und Unschuld?
    Er ließ sich schwer auf das Bett fallen und dachte an die verbotenen Reisen nach Yorkshire: Wie er und Jean mit verschiedenen Zügen angekommen und mit verschiedenen Zügen abgereist waren, sodass sie Anspruch auf Unschuld erheben konnten. Ingleton lag zweihundertfünfzig Meilen von Hindhead entfernt; dort waren sie sicher. Doch er hatte Sicherheit mit Ehre verwechselt. Im Laufe der Jahre musste es für jedermann offensichtlich geworden sein. Was war ein englisches Dorf anderes als ein Wirbel von Klatsch und Tratsch? Mochte Jean auch von einer Anstandsdame begleitet werden, mochten er und Jean auch eindeutig nie unter demselben Dach übernachtet haben, er war der berühmte Arthur Conan Doyle, der in der Gemeindekirche geheiratet hatte und nun mit einer anderen Frau an seiner Seite über Berg und Tal wanderte.
    Und dann war da noch Waller. In seiner fröhlichen Selbstgefälligkeit hatte er sich niemals gefragt, was Waller von alldem hielt. Die Mama hatte das Vorgehen ihres Sohns gebilligt, und das hatte ihm genügt. Was Waller dachte, war nicht von Belang. Und Waller war in seiner aalglatten und ungezwungenen Art nie taktlos geworden. Er hatte sich benommen, als glaube er sämtliche Geschichten, die ihm aufgetischt wurden, unbesehen. Dass die Leckies alte Freunde der Doyles waren; dass die Mama die Tochter der Leckies schon immer gemocht hatte. Waller hatte nie mehr und nie weniger gesagt, als pure Höflichkeit und pure Vernunft geboten. Er versuchte nicht, Arthur den Golfschwung mit einer Bemerkung darüber zu verderben, was für eine hübsche junge Frau Jean Leckie doch sei. Aber Waller hatte alle Finten bestimmt sofort durchschaut. Womöglich hatte er – Gott bewahre – hinter Arthurs Rücken mit der Mama darüber gesprochen. Nein, diese Vorstellung war unerträglich. Aber Waller hatte auf jeden Fall gesehen und verstanden. Und – was das Schlimmste war, wie Arthur nun erkannte – Waller konnte ihn mit ungeheurer Genugtuung betrachten. Während sie miteinander Rebhühner schossen und auf Frettchenjagd gingen, dachte Waller an den eben aus Österreich zurückgekehrten

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