Arthur & George
für den anderen sorgte.
»Es war ein glücklicher Tag«, sagte er entschieden, an der Erinnerung festhaltend, die er durch immer neue Wiederholung zu einer Gewissheit gemacht hatte. »Das Hotel Belle Vue. Die Seilbahn. Gebratenes Hühnchen. Keine Steinchen sammeln. Die Eisenbahnfahrt. Es war ein glücklicher Tag.«
»Die meiste Zeit habe ich dir etwas vorgespielt.«
George wusste nicht recht, ob er sich seine Erinnerungen zerstören lassen wollte. »Ich war mir nie sicher, wie viel du wusstest.«
»George, ich war kein Kind mehr. Vielleicht war ich ein Kind, als alles anfing, aber damals nicht. Was blieb mir anderes übrig, als mir alles zusammenzureimen? Man kann vor einem einundzwanzigjährigen Menschen, der kaum aus dem Haus geht, nichts verborgen halten. Man hält nur etwas vor sich selbst verborgen, macht sich selbst etwas vor und hofft, dass der andere dabei mitspielt.«
George ließ seine Gedanken von der Maud, die er jetzt kannte, in die Vergangenheit zurückschweifen und merkte, dass viel mehr von dieser Frau in jenem Mädchen gesteckt haben musste, als ihm damals bewusst war. Doch er hatte kein Verlangen danach, den komplizierten Folgen dieser Feststellung nachzugehen. Er hatte vor langer Zeit entschieden, was damals geschehen war; er kannte seine Geschichte gut. Mit einer allgemeinen Korrektur wie der eben angebrachten konnte er sich unter Umständen abfinden; doch nach neuen Einzelheiten stand ihm ganz und gar nicht der Sinn.
Maud spürte das. Und wenn er ihr damals etwas vorenthalten hatte, so hatte auch sie ihm etwas vorenthalten. Nie würde sie ihm von dem Morgen erzählen, an dem der Vater sie in sein Studierzimmer gerufen und ihr erklärt hatte, er mache sich große Sorgen um das innere Gleichgewicht ihres Bruders. Er sagte, George sei nervlich sehr mitgenommen und weigere sich strikt, einmal auszuspannen; darum wolle er beim Abendessen Bruder und Schwester einen gemeinsamen Ausflug nach Aberystwyth vorschlagen, und sie müsse, ob sie wolle oder nicht, zustimmen und darauf bestehen, dass sie – unbedingt – fahren. Und so war es dann auch geschehen. George hatte den Vorschlag seines Vaters höflich, aber störrisch abgelehnt und dann den Bitten seiner Schwester nachgegeben.
Ein solches Komplott war im Pfarrhaus ganz und gar nicht üblich. Noch mehr hatte Maud jedoch entsetzt, wie ihr Vater Georges Zustand beurteilte. George war für sie immer der verlässliche, gewissenhafte Bruder gewesen, während Horace der leichtfertige war, der jeder Laune nachgab und keinerlei Gleichmütigkeit besaß. Und wie sich herausstellte, hatte sie recht gehabt und Vater unrecht. Denn wie hätte George seine Feuerprobe überstehen können, wenn er nicht viel mehr innere Stärke besessen hätte, als Vater ihm je zutraute? Doch diese Gedanken würde Maud immer für sich behalten.
»In einer Sache hat Sir Arthur gründlich geirrt«, erklärte George plötzlich. »Er war gegen das Frauenwahlrecht.« Da ihr Bruder immer für das Wahlrecht der Frauen eingetreten war, solange das Thema zur Diskussion stand, überraschte Maud diese Meinung nicht. Doch seinen scharfen Ton konnte sie sich nicht erklären. George schaute jetzt verlegen zur Seite. Diese Wege der Erinnerung und alles, was damit zusammenhing, hatten in ihm die zärtlichsten Empfindungen für Maud geweckt und auch die Erkenntnis, dass dies die stärksten Gefühle in seinem Leben waren und bleiben würden. Er war jedoch weder geschickt noch unbefangen genug, um solche Gedanken zu vermitteln, und selbst dieses denkbar indirekte Geständnis verstörte ihn. Darum stand er auf, faltete den Herald unnötigerweise zusammen, gab ihn zurück und ging hinunter in seine Kanzlei.
Obwohl dort Arbeit auf ihn wartete, saß er an seinem Schreibtisch und dachte an Sir Arthur. Ihre letzte Begegnung lag dreiundzwanzig Jahre zurück; dennoch war die Verbindung zwischen ihnen irgendwie nie abgerissen. Er hatte das Schreiben und Wirken Sir Arthurs verfolgt, seine Reisen und Kampagnen, sein Intervenieren in das öffentliche Leben der Nation. Oft entsprachen diese Stellungnahmen – zur Reform des Scheidungsrechts, zu der von Deutschland ausgehenden Gefahr, der Notwendigkeit eines Tunnels unter dem Ärmelkanal, der moralischen Unumgänglichkeit einer Rückgabe Gibraltars an Spanien – dem, was George selbst dachte. Doch gestattete er sich unverhohlene Skepsis gegenüber einem weniger bekannten Beitrag Sir Arthurs zur Strafrechtsreform: dem Vorschlag, hartgesottene
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