Arthur & George
öffentliche Vorträge oder große juristische Versammlungen; doch im Allgemeinen hielt er die menschliche Neigung, sich an einem Ort zusammenzuballen, für den Beginn der Unvernunft. Er wohnte zwar in London, einer äußerst dicht besiedelten Stadt, konnte den Kontakt zu seinen Mitmenschen aber in engen Grenzen halten. Er hatte es lieber, wenn sie einer nach dem anderen in seine Kanzlei kamen, wo er sich durch seinen Schreibtisch und seine Rechtskenntnisse geschützt fühlte. Hier in der Borough High Street Nr. 79 war er sicher: Unten lag die Kanzlei und darüber die Räumlichkeiten, die er mit Maud zusammen bewohnte.
Dieser gemeinsame Hausstand war eine ausgezeichnete Idee gewesen, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wessen Vorschlag das gewesen war. Als Sir Arthur sich für ihn einsetzte, hatte die Mutter eine Zeit lang mit ihm bei Miss Goode am Mecklenburgh Square gewohnt. Aber sie musste natürlich nach Wyrley zurückkehren, und da schien es nur logisch, die Frauen des Haushalts zu tauschen. Maud hatte sich als ungeheuer tüchtig erwiesen, was ihre Eltern sehr, ihn aber viel weniger überraschte. Sie führte ihm den Haushalt, kochte, übernahm in Abwesenheit seiner Sekretärin deren Aufgaben und lauschte seinen Erzählungen von der täglichen Arbeit mit ebenso viel Begeisterung, als säße sie wieder in dem alten Schulzimmer. Seit ihrer Übersiedlung nach London ging sie mehr aus sich heraus und hatte auch ihren eigenen Kopf; außerdem hatte sie gelernt, ihn zu necken, was ihm ein besonderes Vergnügen bereitete.
»Aber was soll ich anziehen?«
Ihre prompte Antwort ließ vermuten, dass sie die Frage erwartet hatte. »Deinen blauen Geschäftsanzug. Es ist keine Beerdigung, und Schwarz sehen sie ohnehin nicht gern. Aber es ist wichtig, Respekt zu zeigen.«
»Offenbar ist es eine riesige Halle. Ich werde wohl kaum einen Platz nahe der Bühne bekommen.«
Es hatte sich zwischen ihnen eingebürgert, dass George gewohnheitsmäßig Einwände gegen bereits beschlossene Pläne suchte. Maud ihrerseits genoss diese Ausflüchte. Nun verschwand sie, und er hörte, wie in der Dachstube über ihm Gegenstände herumgeschoben wurden. Wenige Minuten später legte sie etwas vor ihn hin, bei dem ihn ein jäher Schauer überlief: sein Fernglas in einem verstaubten Etui. Sie holte einen Lappen und wischte den Staub weg; das lange nicht geputzte Leder glänzte feucht und matt.
Und da stehen Bruder und Schwester noch einmal an dem letzten vollkommen glücklichen Tag seines Lebens in den Castle Gardens von Aberystwyth. Ein Passant zeigt ihnen Mount Snowdon; doch George sieht nichts als das freudige Gesicht seiner Schwester. Sie dreht sich um und verspricht, ihm ein Fernglas zu kaufen. Zwei Wochen danach begann sein Leidensweg, und als er dann frei war und sie in die Borough High Street zogen, hatte sie ihm zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest dieses Geschenk gemacht, bei dem ihm fast die Tränen gekommen wären.
Er war dankbar gewesen, aber auch verwundert, denn Mount Snowdon lag nun in weiter Ferne, und er glaubte kaum, dass sie jemals wieder nach Aberystwyth fahren würden. Maud hatte das vorausgesehen und angeregt, er könne doch anfangen, Vögel zu beobachten. Wie alles, was Maud vorschlug, leuchtete ihm das sofort ein, und so zog er eine Zeit lang am Sonntagnachmittag in die Sümpfe und Wälder des Londoner Umlands hinaus. Sie dachte, er brauche ein Hobby; er dachte, sie wolle ihn hin und wieder aus dem Haus haben. Für ein paar Monate behielt er das brav bei, doch in Wirklichkeit hatte er Mühe, einem fliegenden Vogel zu folgen, und die still sitzenden fanden anscheinend Vergnügen daran, sich zu tarnen. Obendrein und außerdem kamen ihm die Orte, an denen man Vögel angeblich am besten beobachten konnte, kalt und feucht vor. Wer drei Jahre im Gefängnis verbracht hat, der braucht keine Kälte und Feuchtigkeit mehr im Leben, bis er im Sarg liegt und an den kältesten und feuchtesten aller Orte heruntergelassen wird. Das war Georges wohlerwogene Meinung zum Thema Vogelbeobachtung.
»Du hast mir damals so leidgetan.«
George blickte auf, und sein inneres Bild von einem einundzwanzigjährigen Mädchen in den enttäuschenden Ruinen einer walisischen Burg wich dem einer Frau in mittleren Jahren mit allmählich grau werdendem Haar hinter einer Teekanne. Maud entdeckte noch etwas Staub auf dem Etui seines Fernglases und wischte noch einmal darüber. George sah seine Schwester an. Manchmal fragte er sich, wer von beiden
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