Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz
Einführung - Über Nähe und Distanz
Nähe und Distanz spielen eine entscheidende Rolle in unser aller Leben, unerschöpflich in ihren vielfältigen Wirkungen auf unser Gefühlsleben und in dessen körpersprachlichen Manifestationen.
Jeder von uns hat schon einmal den Wunsch empfunden, die Nähe eines Menschen zu suchen, den er bewundert, schätzt, liebt oder einfach schön findet. Wir haben dann das Gefühl, seine Weisheit, Stärke oder Schönheit strahle durch seine Nähe unmittelbar auf uns aus.
Wer kann sich nicht daran erinnern, wie er versucht hat, die Nähe der Eltern, des großen Bruders oder der älteren Schwester zu finden, die Nähe des Wortführers in seiner Clique oder, wenn es irgendwie möglich war, die Nähe des verehrten Popstars, jedenfalls in der ersten Reihe des Konzertsaals?
Im nächsten Augenblick kann uns der starke Wunsch nach Distanz überkommen, die Sehnsucht, uns endlich auf uns selbst zurückziehen zu können und allein zu sein. Das geschieht dann, wenn Menschen und Dinge uns einfach zu viel geworden sind, auch wenn es sich dabei um Eltern, Geschwister oder Freunde handelt. Wir möchten am liebsten einfach die Tür zuknallen, irgendwo spazieren gehen oder uns in eine Ecke unseres eigenen Zimmers verkriechen und niemanden hereinlassen. Alles das könnten wir eine natürliche Reaktion nennen, wenn es sich bei diesen Menschen um Feinde handelte. Aber wir lieben diese Leute doch! Was soll das Ganze also?
Die volkstümliche Redensart, die ich zum Titel dieses Buches gewählt habe, »Umarme mich, aber rühr mich nicht an«, spricht ja, ebenso wie die bekanntere Variante, »Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass«, ganz unzweideutig etwas Unmögliches aus. Genauso müsste es eigentlich mit dem Wunsch des Menschen nach Nähe und seinem gleichzeitigen Bedürfnis nach Distanz gehen.
Nähe und Distanz bezeichnen ja tatsächlich auf den ersten Blick einen Gegensatz, zwei einander entgegengesetzte Pole. Müsste man also nicht
sagen, dass sie sich unter keinen Umständen miteinander vertragen? In Wahrheit jedoch bedingen sie einander: sie sind untrennbar miteinander verbunden wie die beiden Pole eines Magneten. Wir brauchen nur den richtigen Pol eines Magneten auszusuchen, um ihn mit einem anderen Magneten zu verbinden, und schon ziehen sich die beiden Magneten unwiderstehlich an. Wechseln wir die Pole, stoßen sie sich gegenseitig ab. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass wir beide Pole brauchen: Ohne Distanz keine Nähe, ohne Nähe keine Distanz. Wir sind auf diesen Dualismus angewiesen, weil ohne ihn keine Wahrnehmung möglich wäre. Er ist der Ursprung, der Beginn, die Voraussetzung jeder Wahrnehmung: Ohne Du gibt es kein Ich, ohne Nähe keine Ferne, ohne Höhe keine Tiefe. Die Unterscheidung macht die Wahrnehmung erst möglich: Was ist typisch für mich und nicht typisch für einen anderen? Wie erkenne ich Eigenarten von Menschen oder von Dingen? Nur durch ihre Unterschiedlichkeit, durch ihr Anderssein, auch wenn es nur in winzigen Nuancen sichtbar wird. Diese Abgrenzung voneinander ist notwendig, um sie unterscheiden und damit überhaupt erst erkennen zu können.
Hier scheint ein kleiner Mann sehr stolz darauf zu sein, an der Hand eines großen zu gehen. Sein Blick nach oben spricht von Bewunderung und dem sichtbaren Bewusstsein von Identifikation: »So möchte ich auch sein.«
»Das ist mein großer Bruder!« Auf ihn bin ich stolz. Neben ihm habe ich das Gefühl, auch stark zu sein.
Indem ich mich abgrenze, nehme ich Distanz von den anderen: Identität und Individualität können nicht ohne Abgrenzung entstehen. Mehr als das: Ohne diesen Dualismus, ohne diese wahrgenommenen Unterschiede hören wir nicht, sehen wir nicht und fühlen wir nicht. Wie kann ich ein Gefühl wahrnehmen, ohne dass eine Veränderung meines Zustandes
stattgefunden hat? Ohne Tonwechsel lässt sich keine Melodie wahrnehmen und keine Sprache erkennen, kein Geräusch identifizieren. Differenzierung und ihre Wiedererkennung verschafft die Erkenntnis der Dinge, und jede Differenzierung errichtet eine Distanz. Indem wir Menschen und Dinge miteinander vergleichen, können wir sie voneinander unterscheiden, den jüngeren Bruder vom älteren, den einen Freund vom anderen. Gäbe es die Unterschiede zwischen Menschen nicht, brauchte ich nicht mehrere, die auf mich einwirken, es würde mir ein einziger genügen. Zu der Differenzierung, die ich zwischen Mensch und Mensch treffen können muss, gesellt sich noch meine
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