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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Einsammeln und Herauslegen des Werkzeugs bis zum nächsten Tag. 20 Uhr Bettruhe.
    Das Leben war rauer und kälter und einsamer, als er es je gekannt hatte; doch dieser rigide Tagesablauf war ihm eine Hilfe. Er hatte seit jeher nach einem strikten Stundenplan gelebt und auch mit einem hohen Arbeitspensum, ob nun als Schuljunge oder als Solicitor. Es hatte in seinem Leben sehr wenige Ferientage gegeben – der Ausflug nach Aberystwyth mit Maud war eine seltene Ausnahme – und noch weniger Luxus außer dem des Geistes und Verstandes.
    »Was Stargäste am meisten vermissen«, sagte der Gefängnispfarrer bei dem ersten seiner wöchentlichen Besuche, »ist das Bier. Nun ja, nicht nur die Stargäste. Auch die Mittelstufler und die Stammgäste vermissen es.«
    »Zum Glück trinke ich nicht.«
    »Und das Zweite sind die Zigaretten.«
    »Auch in dieser Hinsicht habe ich Glück.«
    »Und das Dritte sind die Zeitungen.«
    George nickte. »Die entbehre ich bereits schmerzlich, das gebe ich zu. Ich hatte die Angewohnheit, täglich drei Zeitungen zu lesen.«
    »Wenn ich irgendwie helfen könnte …«, sagte der Geistliche. »Aber die Vorschriften …«
    »Vielleicht ist es besser, vollständig auf etwas zu verzichten, als darauf zu hoffen, man könne es von Zeit zu Zeit bekommen.«
    »Ich wünschte, andere hätten dieselbe Einstellung. Ich habe Männer gesehen, die wie verrückt nach einer Zigarette oder Alkohol gierten. Und einige vermissen ihr Mädchen ganz fürchterlich. Manche vermissen ihre Kleider, manche etwas, von dem sie gar nicht wussten, wie gern sie es hatten, zum Beispiel den Geruch vor ihrer Hintertür an einem Sommerabend. Jeder vermisst etwas.«
    »Ich will nicht selbstgefällig sein«, antwortete George. »Ich kann nur die Zeitungsfrage von der praktischen Seite sehen. In anderer Hinsicht bin ich bestimmt wie jeder andere auch.«
    »Und was vermissen Sie am meisten?«
    »Ach«, antwortete George, »ich vermisse mein Leben.«
    Der Pfarrer schien davon auszugehen, dass George als Sohn eines Geistlichen Trost und Erquickung vor allem aus der Ausübung seiner Religion schöpfen werde. George klärte ihn nicht über seinen Irrtum auf und ging auch bereitwilliger zur Andacht als die meisten anderen; doch wenn er niederkniete, sang und betete, empfand er dabei nicht mehr, als wenn er seinen Kübel hinausstellte, sein Bettzeug zusammenlegte und arbeitete – es war etwas, das ihm half, den Tag zu überstehen. Die meisten Häftlinge gingen zur Arbeit in die Schuppen, wo sie Matten und Körbe flochten; ein Stargast mit drei Monaten Iso musste in der eigenen Zelle arbeiten. George bekam ein Stück Karton und Bündel von schwerem Garn. Man zeigte ihm, wie er das Garn mit dem Karton als Schablone flechten sollte. So stellte er, langsam und mühevoll, Rechtecke aus dickem geflochtenem Stoff in einer vorgegebenen Größe her. Wenn er sechs davon fertig hatte, wurden sie abgeholt. Dann begann er eine neue Partie, und dann wieder eine.
    Nach ein paar Wochen fragte er einen Gefängnisbeamten, was wohl der Zweck dieser Gebilde sein mochte.
    »Ach, das sollten Sie doch wissen, 247 , gerade Sie sollten das wissen.«
    George versuchte sich zu erinnern, wo er einen solchen Stoff schon gesehen haben könnte. Als ihm nichts einfallen wollte, nahm der Wärter zwei fertige Rechtecke und drückte sie gegeneinander. Dann hielt er sie George unters Kinn. Da dies keine Reaktion hervorrief, hielt er sie sich unter das eigene Kinn und machte den Mund mit feuchten Lippen geräuschvoll auf und zu.
    Diese Scharade verwirrte George vollends. »Leider nein.«
    »Ach, kommen Sie. Es fällt Ihnen bestimmt ein.« Der Wärter gab immer lautere Kaugeräusche von sich.
    »Ich kann es einfach nicht erraten.«
    »Futtersäcke für Pferde, 247 , Futtersäcke für Pferde. Muss Ihnen doch gefallen, wo Sie sich mit Pferden auskennen.«
    George war wie vom Schlag getroffen. Der Wärter wusste also Bescheid; alle wussten Bescheid; sie redeten und machten Scherze über ihn. »Bin ich der Einzige, der so etwas herstellt?«
    Der Wärter grinste. »Halten Sie sich nicht für etwas Besonderes, 247 . Sie flechten den Stoff, Sie und ein halbes Dutzend andere. Manche nähen ihn zusammen. Manche machen die Stricke, mit denen man dem Pferd den Sack um den Hals hängt. Manche fügen das Ganze zusammen. Und manche packen sie zum Versand ein.«
    Nein, er war nichts Besonderes. Das war ihm ein Trost. Er war einfach ein Häftling wie andere auch und arbeitete genau wie sie; sein

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