Arthur & George
seine Schuldgefühle nur doppelt schwer.
Sie wussten, dass er unschuldig war? Dann drückte ihn die Verzweiflung noch weiter nieder. Sie wussten, dass er unschuldig war, doch wie konnten sie verhindern, dass sie im Geiste alles drehten und wendeten, was sie in den letzten vier Tagen gesehen und gehört hatten? Und wenn ihr Glaube an ihn nun zu wanken begann? Wenn sie sagten, sie wüssten, dass er unschuldig sei, was hieß das eigentlich? Um zu wissen, dass er unschuldig war, hätten sie entweder die ganze Nacht lang aufsitzen und ihn im Schlaf beobachten oder aber auf dem Colliery-Feld Wache halten müssen, als irgendein wahnsinniger Landarbeiter mit einem üblen Werkzeug in der Tasche auftauchte. Nur so konnten sie wahrhaft wissen. Also glaubten sie nur, glaubten wahrhaft. Und wenn nun im Laufe der Zeit irgendein Wort von Mr Disturnal, irgendeine Behauptung von Dr. Butter oder irgendein langgehegter persönlicher Zweifel an George ihren Glauben an ihn zu untergraben begann?
Dann hätte er ihnen wieder etwas angetan. Er hätte sie auf den düsteren Weg des Selbstzweifels geschickt. Heute: Wir kennen George, und wir wissen, dass er unschuldig ist. Aber in drei Monaten vielleicht: Wir meinen George zu kennen und glauben, dass er unschuldig ist. Und in einem Jahr dann: Wir sehen ein, dass wir George nicht kannten, halten ihn aber immer noch für unschuldig. Wer könnte es einem Menschen verdenken, wenn er auf diese abschüssige Bahn geriet?
Nicht nur er war verurteilt worden; auch seine Familie war verurteilt worden. Wenn er schuldig war, würde manch einer folgern, seine Eltern hätten einen Meineid geschworen. Wenn nun der Pfarrer über den Unterschied zwischen Recht und Unrecht predigte, würde seine Gemeinde ihn dann für einen Heuchler oder einen Gimpel halten? Wenn seine Mutter die Unterdrückten besuchte, könnten die dann nicht sagen, sie solle sich ihr Mitgefühl lieber für ihren verbrecherischen Sohn in seinem fernen Gefängnis aufsparen? Auch das hatte er getan: Er hatte seine eigenen Eltern verurteilt. Sollten diese marternden Vorstellungen, dieser erbarmungslose moralische Strudel ewig weitergehen? Er wartete darauf, noch tiefer zu sinken, fortgerissen zu werden, zu ertrinken; doch dann dachte er wieder an Maud. Er saß auf seinem harten Stuhl hinter eisernen Gittern, während Constable Dubbs irgendwo im Halbdunkel unmelodisch vor sich hin pfiff, und dachte an Maud. Sie war sein Hoffnungsquell, sie würde ihn vor dem Sturz bewahren. Er glaubte an Maud; er wusste, sie würde nicht wanken, denn er hatte den Blick gesehen, den sie ihm im Gerichtssaal zugeworfen hatte. Dieser Blick bedurfte keiner Interpretation, und Zeit und Bösartigkeit konnten ihm nichts anhaben; es war ein Blick voller Liebe und Vertrauen und Gewissheit.
Als sich die Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude verlaufen hatte, wurde George ins Gefängnis von Stafford zurückgebracht. Hier wurde ihm seine Welt ein weiteres Mal neu bestimmt. Da er seit seiner Festnahme im Gefängnis war, betrachtete er sich seither ganz selbstverständlich als Gefangenen. In Wirklichkeit aber war er in der besten Krankenhauszelle untergebracht gewesen; er erhielt jeden Morgen Zeitungen, bekam Essen von seiner Familie und durfte Geschäftsbriefe schreiben. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte er seine Situation für eine vorübergehende Begleiterscheinung gehalten, für eine kurze Strafe.
Nun war er wahrhaftig ein Gefangener, und zum Beweis nahm man ihm seine Kleider ab. Im Grunde war das nicht ohne Ironie, da ihm der auffällige Sommeranzug und der sinnlose Strohhut schon seit Wochen unangenehm und ärgerlich waren. Hatte ihn der Anzug vor Gericht weniger seriös erscheinen lassen und somit seiner Sache geschadet? Er wusste es nicht. Auf jeden Fall wurden ihm Anzug und Hut abgenommen und gegen die schwere, pelzig-raue Gefängniskluft ausgetauscht. Die Jacke hing ihm zu weit um die Schultern, die Hose beulte an Knien und Knöcheln; es war ihm gleichgültig. Man gab ihm auch eine Weste, eine Feldmütze und ein Paar derbe Stiefel.
»Das wird jetzt ein kleiner Schock für Sie sein«, sagte der Wärter, als er den Sommeranzug zusammenpackte. »Aber die meisten gewöhnen sich daran. Sogar Leute wie Sie, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
George nickte. Er vermerkte dankbar, dass der Beamte ihn in demselben Ton und mit ebenso viel Höflichkeit angesprochen hatte wie in den vergangenen acht Wochen. Das überraschte ihn. Irgendwie hatte er erwartet, bei
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