Artikel 5
glauben Sie, dass Sie sind?«
»Pass auf, was du sagst«, blaffte Bateman. »Du hast bereits einen Soldaten geschlagen. Wie viel tiefer soll das Loch, das du dir gräbst, noch werden?«
Ich konnte meine Mutter aufgeregt reden hören, immer wieder von krampfhaftem Schluchzen unterbrochen. Als sie wieder anfingen, sie in Richtung Van zu zerren, stürzte ich voran und klammerte mich an Chases Uniform. Die Verzweiflung erdrückte mich beinahe. Sie würden sie mir wegnehmen.
»Chase, bitte«, bettelte ich. »Bitte sag ihnen, dass das ein Irrtum sein muss. Wir sind anständige Leute. Du kennst uns. Du kennst mich .«
Er schüttelte mich ab, als hätte ein widerliches Etwas ihn berührt. Das schmerzte mehr, als es irgendetwas anderes in diesem Moment vermocht hätte. Schockiert starrte ich ihn an.
Die Niederlage war verheerend.
Meine Arme wurden hinter meinen Rücken gezerrt und dort unentrinnbar in Morris’ starkem Griff festgehalten. Mir war es gleich. Ich konnte sie nicht einmal spüren.
Chase entfernte sich von mir. Bateman und Conner scheuchten meine Mutter zu dem Van. Über die Schulter blickte sie sich um und sah mich mit angstvollen Augen an.
»Alles in Ordnung, Baby«, rief sie und bemühte sich um einen zuversichtlichen Tonfall. »Ich finde heraus, wer dafür verantwortlich ist, und dann werde ich mich lange und eingehend mit ihm unterhalten.«
Bei der Vorstellung drehte sich mir der Magen um.
»Sie trägt nicht einmal Schuhe«, brüllte ich den Soldaten hinterher.
Es gab nichts mehr zu sagen, während sie meine Mutter in den Van verfrachteten. Und als sie im Inneren verschwand, spürte ich, wie etwas in mir zerriss, etwas freigesetzt wurde, das sich anfühlte wie Säure in meiner Brust. Es versengte mein Inneres, zwang mich, schneller zu atmen, brachte meine Kehle zum Brennen und meine Lunge zum Krampfen.
»Los, vorwärts. Zum Wagen«, befahl Morris.
»Was? Nein!«, schrie Beth. »Sie dürfen Ember nicht auch noch mitnehmen.«
»Was soll das?«, verlangte Ryan zu erfahren.
»Ms Miller wird gemäß Artikel 5 der Moralstatuten in das Gewahrsam der Regierung überstellt. Sie kommt in die Resozialisierung.«
Plötzlich war ich das alles furchtbar leid. Meine Gedanken ergaben keinen Sinn mehr. Verschwommene Linien durchzogen mein Blickfeld, aber ich konnte sie nicht wegblinzeln. Ich schnappte nach Luft, aber sie reichte mir nicht.
»Kämpf nicht gegen mich, Ember«, wies Chase mich mit ruhiger Stimme an. Mir brach das Herz, als ich ihn meinen Namen sagen hörte.
»Warum tust du das?« Meine Stimme klang fern und schwach. Er antwortete nicht, aber ich hatte auch nicht mit einer Antwort gerechnet.
Sie führten mich zu dem Wagen, der hinter dem Van stand. Chase öffnete die hintere Tür und schob mich unsanft auf die Rückbank. Ich kippte auf die Seite und fühlte, wie meine Tränen auf den Lederbezug tropften.
Dann war Chase weg. Und obwohl mein Herz wieder ruhiger schlug, blieb der Schmerz in meiner Brust. Er raubte mir den Atem und verschlang mich in einem Stück, und dann stürzte ich in tiefe Finsternis.
»Mom, ich bin zu Hause!« Ich trat mir die Ballerinas an der Haustür von den Füßen und ging durch den Korridor direkt zur Küche, wo ich sie lachen hörte.
»Ember, da bist du ja! Schau, wer wieder da ist!« Meine Mutter stand am Herd und strahlte, als hätte sie mir gerade ein tolles neues Spielzeug besorgt.
Chase Jennings saß in meiner Küche.
Chase Jennings, mit dem ich jeden Tag gespielt hatte, mit dem Fahrrad um die Wette gefahren war und in den ich verknallt war, seit ich wusste, was verknallt sein bedeutet.
Chase Jennings, der auf eine kantige Art attraktiv geworden war; groß und muskelbepackt und so viel gefährlicher als der hagere Vierzehnjährige, an den ich mich erinnerte. Er lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück, die Hände in den Taschen seiner Jeans, und unter einer alten Baseballkappe lugte ein Wirrwarr schwarzer Haare hervor.
Ich starrte ihn an, schaute dann hastig weg und fühlte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.
»Äh … hi.«
»Hey, Ember«, sagte er ganz locker. »Bist erwachsen geworden.«
Blinzelnd schlug ich die Augen auf, als der FBR -Streifenwagen holpernd zum Stehen kam. Mit schwerem, benebeltem Kopf setzte ich mich ganz langsam auf und strich mir das Haar aus dem Gesicht.
Wo war ich?
Es war Nacht geworden, und die Dunkelheit verstärkte meine Orientierungslosigkeit. Ich rieb mir die Augen. Durch die dicke, gläserne Trennscheibe hinter
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