Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Lieber Leser, liebe Leserin!
Beim Schreiben dieses Buches habe ich mich, wie immer, nur aus öffentlichen, allgemein zugänglichen Quellen bedient. Ich halte nichts von »vertraulichen Informationen«, die einem bei »Hintergrundgesprächen« zugeraunt werden. Alles, was man dabei erfährt, steht sowieso in der Zeitung. Dazu kamen Beobachtungen, die ich »vor Ort« sammeln konnte, als ich mit meinem Freund Hamed Abdel-Samad für die TV -Serie »Entweder Broder« in europäischen Landen unterwegs war: von Brüssel bis Krakau und von Island bis Kalabrien.
Eine Reihe europäischer »Skurrilitäten« war mir natürlich schon länger bekannt; die Normierung der Gurkenkrümmung zum Beispiel oder der Unsinn, dass die EU gleichzeitig Kampagnen gegen das Rauchen finanziert und den Anbau von Tabak fördert; dass der eine Kommissar über die Gefahren des Zuckerkonsums »aufklärt« und der andere Kommissar die Zuckerrübenbauern subventioniert.
Was für ein gigantisches Wahngebilde die praktische Umsetzung der »europäischen Idee« aber tatsächlich hervorgebracht hat, ist mir erst bewusst geworden, als ich den Text abgeschlossen hatte. Das Buch ist eine Art »work in progress«, die ich wie eine Loseblattsammlung fortsetzen könnte. Es sind nicht die einzelnen Absurditäten, die das Ganze diskreditieren, es ist die Summe der zahllosen Interventionen in unser Leben und es sind die Begründungen, mit denen sie uns präsentiert werden, wobei das Adjektiv »alternativlos« nur die Spitze der Unsinns-Pyramide markiert. Nehmen Sie deshalb die Beispiele, die Sie in diesem Buch finden werden, »pars pro toto«. Und weil jeden Tag neue Ungeheuerlichkeiten hinzukommen, die immer den gleichen Mustern und Strukturen folgen, spielt die Aktualität nur eine untergeordnete Rolle.
Sollten Sie den Eindruck haben, das politische Spitzenpersonal in diesem Land zeige doch gerade im Moment eine gewisse Einsicht – kein weiterer Schuldenerlass, Spardiktat für die »Südländer« – oder gar demonstrative Skepsis – keine Teilnahme an der Feier anlässlich der Aufnahme Kroatiens in die EU –, so bedenken Sie: Der nächste Wahltag steht schon vor der Tür! Und nichts fürchtet die Nomenklatura mehr als eine ehrliche Diskussion darüber, was sie mit der »europäischen Idee« angerichtet hat. Also müssen wir sie dazu zwingen, im Wissen, dass der wirkliche Europäer ein kritischer Europäer ist. »Europakritiker« und »Europaskeptiker« sind inzwischen negativ besetzte Begriffe, wie »Nestbeschmutzer« und »Kritikaster«. Aber Kritik und Skepsis sind die Waffen des Bürgers. Nur ein Untertan lässt sich widerspruchslos herumkommandieren.
In diesem Sinne: Ran an die Buletten!
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1. Wie ich Europa für mich entdeckte
Ich muss zugeben, dass mir »Europa« lange egal war. Es gibt einige Dinge, die ich als selbstverständlich nehme. Dass ich ein Mann bin, dass ich einen deutschen Pass habe, dass ich ein Europäer bin, dass ich in einem Rechtsstaat lebe, dass ich genug zu essen und zu trinken habe. Ich muss mich für nichts entschuldigen, ich brauche für nichts dankbar zu sein.
Ich glaube weder an Gott noch an die Klimakatastrophe, ich sammle Schneekugeln und Kühlschrankmagneten, ich leiste meinen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, zahle meine Steuern, halte an der roten Ampel und fühle mich überall dort wohl, wo ich in Ruhe gelassen werde. Zu sagen: »Ich bin ein Europäer«, fände ich so albern wie: »Ich dusche täglich«. Selbstverständlichkeiten, die in den Rang des Besonderen erhoben werden, sind peinlich. Ich wurde in Kattowitz geboren, und das liegt weder in Amerika noch in Afrika, Australien oder Asien, sondern mitten in Europa. Mir wäre schon geholfen, wenn es nicht in Polen, sondern in der Toskana liegen würde.
Ich habe noch nie an einer Europawahl teilgenommen, ich weiß nicht einmal, wer mich im Europäischen Parlament vertritt. Europapolitik war für mich einerseits der Sandkasten, in dem sich diejenigen tummeln, die nicht einmal in Gummersbach oder Radebeul ein Amt abbekommen hatten, andererseits die Auffangstation für Politiker wie Cem Özdemir, Angelika Beer, Sahra Wagenknecht und Günther Oettinger, die sich mit ihrer Basis überworfen hatten und mit einem Job abgefunden werden oder eine Warteschleife drehen mussten, bis über irgendeinen Skandal Gras gewachsen war.
Irgendwann konnte man
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