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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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mich innerlich vor Angst gekrümmt … Jetzt aber …«
     
    »Wann ist das passiert?«
    »Vor einer Woche, Väterchen, eine Woche ist es her, mein Lieber, da ist es herausgetreten …«
    Die Frau schniefte.
    Der graue Oktobermorgen des ersten Tages meines zweiten Jahres schaute zum Fenster herein. Gestern abend hatte ich vor dem Einschlafen stolz geprahlt, heute morgen stand ich im Kittel da und blickte verwirrt …
    Sie hielt den einjährigen Knaben wie ein Holzscheit in den Armen, und der Knabe hatte kein linkes Auge. Statt des Auges quoll aus den gespannten, entzündeten Lidern eine gelbliche Kugel von der Größe eines kleinen Apfels. Der Knabe schrie und strampelte qualvoll, die Frau schniefte. Ich war fassungslos.
    Ich untersuchte das Ding von allen Seiten. Demjan Lukitsch und eine der Hebammen standen hinter mir.
    Sie schwiegen, hatten so etwas auch noch nie gesehen.
    Was ist das … Ein Gehirnbruch … Hm … der Junge lebt … Ein Sarkom … Hm … ziemlich weich … Eine nie gesehene, unheimliche Geschwulst … wo die bloß herkommt … Hat sich wohl aus dem früheren Auge entwickelt  … Vielleicht war nie ein Auge da … Jedenfalls ist jetzt keins da …
    »Hör zu«, sagte ich in einer Eingebung, »ich muß das Ding herausschneiden …«
    Und schon stellte ich mir vor, wie ich das Lid einschneide, zur Seite ziehe und …

    Und was? Was dann weiter? Vielleicht kommt das wirklich aus dem Gehirn … Puh, verdammt … Ziemlich weich  … ähnlich wie Gehirn …
    »Schneiden?« fragte die Frau erbleichend. »Am Auge schneiden? Damit bin ich nicht einverstanden …«
    Entsetzt wickelte sie den Säugling in seine Tücher.
    »Er hat ja kein Auge«, antwortete ich entschieden, »sieh doch selber, wo soll es denn sein? Dein Säugling hat eine merkwürdige Geschwulst …«
    »Geben Sie ihm Tropfen«, sagte die Frau entsetzt.
    »Was redest du da, willst du mich verspotten? Was denn für Tropfen? Hier helfen keine Tropfen!«
    »Was denn, soll er ohne Auge bleiben?«
    »Ich sage dir doch, er hat kein Auge …«
    »Vorgestern hatte er noch eins!« rief die Frau verzweifelt. Verdammt!
    »Ich weiß nicht, vielleicht hatte er eins … verdammt … Aber jetzt hat er keins. Überhaupt, weißt du was, meine Gute, bring deinen Säugling in die Stadt. Mach das gleich, dort operieren sie ihn. Was meinen Sie, Demjan Lukitsch?«
    »Tja«, antwortete der Feldscher tiefsinnig, denn er wußte auch nicht weiter, »nie gesehen so ein Ding.«
    »Werden sie schneiden in der Stadt?« fragte die Frau entsetzt. »Das laß ich nicht zu.«
    Es endete damit, daß die Frau ihren Säugling wieder mitnahm und niemanden das Auge berühren ließ.
    Zwei Tage lang zerbrach ich mir den Kopf, zuckte die Achseln, durchstöberte die Bibliothek, betrachtete Zeichnungen von Säuglingen, denen statt der Augen Blasen herausquollen … Verdammt.
    Dann hatte ich den Säugling vergessen.
     
    Eine Woche verging.
    »Anna Shuchowa!« rief ich auf.
    Eine lustige Frau mit einem Kind auf dem Arm trat ein. »Wo fehlt’s?« fragte ich gewohnheitsgemäß.

    »Ich hab Stiche in der Seite, kann nicht durchatmen«, meldete die Frau und lächelte spöttisch.
    Beim Klang ihrer Stimme fuhr ich auf.
    »Erkennen Sie mich wieder?« fragte sie spöttisch.
    »Warte … warte … das ist doch … warte … dasselbe Kind?«
    »Ja. Wissen Sie noch, Herr Doktor, wie Sie gesagt haben, es hat kein Auge, und man muß schneiden …«
    Ich stand wie vom Donner gerührt. Die Frau blickte mich triumphierend an, ihre Augen lachten.
    Auf ihrem Arm saß still der Säugling und schaute mit braunen Augen in die Welt. Die gelbe Blase war spurlos verschwunden.
    Das grenzt ja an Zauberei, dachte ich geschwächt.
    Nachdem ich mich ein wenig gefaßt hatte, zog ich behutsam das Lid zurück. Der Säugling greinte und drehte den Kopf, dennoch sah ich … eine winzige Narbe in der Schleimhaut. Aha …
    »Als wir neulich hier wegfuhren, da ist sie geplatzt …«
    »Brauchst nicht weiterzuerzählen, Frau«, sagte ich verdattert, »weiß schon Bescheid.«
    »Aber Sie haben gesagt, er hat kein Auge. Da ist es wieder.« Und die Frau kicherte höhnisch.
    Ich weiß Bescheid, hol mich der Teufel. Am unteren Lid hat sich eine riesige Eiterblase entwickelt, ist herausgewachsen und hat das Auge verdrängt, hat es gänzlich überdeckt. Wie sie dann geplatzt und der Eiter abgelaufen ist, war alles wieder beim alten …
     
    Nein, nie wieder, nicht mal im Einschlafen, werde ich

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