Arztgeschichten
hochmütig murmeln, mich könne man mit nichts mehr verblüffen. Nein. Ein Jahr ist vergangen, ein weiteres wird vergehen, und es wird genauso reich an Überraschungen sein wie das erste. Also heißt es bescheiden sein und lernen.
1926
Ein Ausschlag wie ein Sternbild
Das ist sie! Mein Gespür sagte es mir. Auf mein Wissen konnte ich mich nicht verlassen. Als Arzt, der erst vor sechs Monaten die Universität beendet hatte, besaß ich natürlich kein Wissen.
Ich hatte Scheu, den Mann an seiner nackten warmen Schulter zu berühren (obwohl kein Grund zur Scheu bestand), und befahl ihm:
»Kommen Sie mal näher ans Licht, mein Lieber!«
Der Mann drehte sich so, wie ich wollte, und das Licht der Petroleumlampe beschien seine gelbliche Haut. Dieses Gelb war auf der gewölbten Brust und auf den Hüften von einem Ausschlag marmoriert. Wie ein Sternbild am Himmel, dachte ich mit einem kalten Schauer und beugte mich zu der Brust, dann hob ich den Blick. Ich sah ein vierzigjähriges Gesicht mit einem verfilzten Bart von schmutzigem Aschgrau und flinke Äuglein hinter halbgeschlossenen geschwollenen Lidern. In diesen Äuglein las ich zu meiner größten Verwunderung Wichtigkeit und ein Bewußtsein der eigenen Würde.
Der Mann klapperte mit den Augen, sah gleichmütig und gelangweilt um sich und zog den Hosengürtel hoch.
Das ist sie, die Syphilis, sagte ich noch einmal streng zu mir. Ich begegnete ihr zum erstenmal in meinem Leben als Arzt, den es zu Beginn der Revolution von der Universitätsbank in die ländliche Einöde verschlagen hatte.
Es war ein Zufall, daß ich auf diese Syphilis stieß. Der Mann war zu mir gekommen und hatte geklagt, er habe einen Frosch im Hals. Ganz mechanisch und ohne an Syphilis zu denken, hatte ich ihm befohlen, sich frei zu machen, und da hatte ich den sternbildartigen Ausschlag entdeckt.
Ich brachte seine Heiserkeit, die böse Röte im Hals, die schlimmen weißen Flecke darin und die marmorierte Brust in Zusammenhang und wußte Bescheid. Vor allem
säuberte ich kleinmütig meine Hände mit einem in Sublimat getauchten Wattebausch, und ein unruhiger Gedanke – er hat mir auf die Hand gehustet – vergiftete mir den Moment. Dann drehte ich hilflos und angewidert den gläsernen Spatel in der Hand, mit dem ich seinen Hals untersucht hatte. Wohin damit?
Ich legte ihn auf ein Stück Watte auf dem Fensterbrett.
»Also«, sagte ich, »schauen Sie … hm … Offensichtlich
… Nein, ganz bestimmt … Schauen Sie, Sie haben eine üble Krankheit, die Syphilis …«
Sprach’s und wurde verlegen. Ich glaubte, der Mann werde sehr heftig erschrecken, die Nerven verlieren …
Er erschrak kein bißchen und verlor auch nicht die Nerven. Irgendwie von der Seite warf er mir einen Blick aus einem runden Auge zu wie ein Huhn, das eine Stimme rufen hört. In dem runden Auge sah ich zu meiner Verblüffung Unglauben.
»Sie haben Syphilis«, wiederholte ich sanft.
»Was ist das?« fragte der Mann mit der marmorierten Haut.
Deutlich sah ich vor mir den schneeweißen Krankensaal in der Universität, das Amphitheater mit den Reihen der Studentenköpfe übereinander und den grauen Bart des Professors für Venerologie. Doch ich besann mich rasch darauf, daß ich mich anderthalbtausend Werst von dem Amphitheater und vierzig Werst von der Eisenbahn entfernt im Licht einer Petroleumlampe befand. Vor der weißen Tür rauschten dumpf die Stimmen der Patienten, die auf ihren Aufruf warteten. Vor dem Fenster dämmerte es unaufhaltsam, und es fiel der erste Schnee des Winters.
Ich ließ den Patienten sich noch weiter frei machen und sah den schon vernarbenden Primäraffekt. Da schwanden meine letzten Zweifel, und ich empfand den gleichen Stolz wie jedesmal, wenn ich eine richtige Diagnose gestellt hatte.
»Ziehen Sie sich wieder an«, sagte ich. »Sie haben Syphilis! Das ist eine sehr ernste Krankheit, die den ganzen Organismus erfaßt. Ihre Behandlung wird lange dauern.«
Hier stockte ich, denn ich las – ich schwöre! – in diesem Hühnerblick Verwunderung und deutliche Ironie.
»Ich bin heiser«, sprach der Patient.
»Nun ja, das kommt davon. Auch der Ausschlag auf der Brust. Sehen Sie ihn sich doch an.«
Der Mann blickte einwärtsschielend an sich herunter. Das ironische Fünkchen in seinen Augen erlosch nicht.
»Ich müßt was für den Hals kriegen«, sprach er.
Was hat er nur immer? dachte ich mit einiger Ungeduld. Ich rede von der Syphilis und er von seinem Hals!
»Hören Sie, mein
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