Arztgeschichten
Lieber«, sagte ich laut, »der Hals, das ist eine zweitrangige Geschichte. Den Hals behandeln wir auch, aber vor allem müssen wir was gegen die allgemeine Krankheit tun. Und die Behandlung dauert lange, zwei Jahre.«
Da starrte mich der Patient mit großen Augen an. Darin las ich sein Urteil über mich: Doktor, du hast ’n Knall!
»Was denn, so lange?« fragte der Patient. »Weshalb denn zwei Jahre? Ich brauch was zum Gurgeln für den Hals.«
Mir wurde innerlich heiß. Und ich redete drauflos. Ihn zu erschrecken, fürchtete ich nicht mehr. O nein! Im Gegenteil, ich deutete ihm an, seine Nase könne einsinken. Ich erzählte ihm, was ihn erwartete, falls er sich nicht ordentlich behandeln ließ. Ich erwähnte die Ansteckungsgefahr der Syphilis und sprach lange von Tellern, Löffeln und Tassen, davon, daß er ein Handtuch nur für sich benutzen müsse …
»Sind Sie verheiratet?« fragte ich.
»Bin ich«, antwortete er verwundert.
»Sie müssen sofort Ihre Frau zu mir schicken!« sagte ich erregt und leidenschaftlich. »Sie ist doch bestimmt auch krank?«
»Die Frau?« fragte der Patient und sah mich mit größter Verwunderung an.
So ging das Gespräch weiter. Er sah mich mit klappernden Wimpern an, und ich sah ihn an. Es war kein Gespräch, es war ein Monolog. Ein glänzender Monolog,
für den jeder Professor dem Studenten im fünften Studienjahr eine Eins gegeben hätte. Ich entdeckte in mir gewaltige Kenntnisse auf dem Gebiet der Syphilis und einen nicht alltäglichen diagnostischen Riecher. Dieser füllte die leeren Flecke an den Stellen, wo mir die Zeilen aus den deutschen und russischen Fachbüchern fehlten. Ich erzählte ihm, was mit den Knochen eines nicht behandelten Syphilitikers geschieht, und beschrieb nebenbei die fortgeschrittene Paralyse. Die Nachkommenschaft! Und wie sollte seine Frau Rettung finden? Oder, wenn sie angesteckt sei, und das sei sie bestimmt, wie sollte ich sie behandeln?
Endlich versiegte mein Redestrom. Mit einer schüchternen Bewegung holte ich das rot eingebundene Nachschlagebuch mit den goldenen Buchstaben aus der Tasche. Es war mein treuer Freund, von dem ich mich auf den ersten Schritten meines schwierigen Weges nie trennte. Wie oft hatte es mir geholfen, wenn die verdammten Rezeptprobleme ihren schwarzen Rachen vor mir aufrissen! Während mein Patient sich anzog, blätterte ich verstohlen in dem Buch und fand, was ich suchte.
Quecksilbersalbe – ein großartiges Heilmittel.
»Sie werden Einreibungen machen. Sie bekommen sechs Päckchen Salbe. Ein Päckchen pro Tag … so …«
Anschaulich und mit Eifer zeigte ich ihm, wie er sich einreiben müsse, und rieb die leere Hand an meinem Kittel.
»Heute den Arm, morgen das Bein, dann wieder den Arm, den anderen. Wenn Sie die sechs Einreibungen gemacht haben, waschen Sie sich und kommen wieder zu mir. Unbedingt. Verstanden? Unbedingt! Ja! Außerdem müssen Sie aufmerksam Ihre Zähne beobachten und den ganzen Mund für die Dauer der Behandlung. Ich geb Ihnen was zum Gurgeln. Jedesmal nach dem Essen gurgeln.«
»Und der Hals?« fragte der Patient heiser, und ich merkte, daß er nur bei dem Wort »gurgeln« aufhorchte.
»Ja, auch den Hals.«
Gleich darauf verschwand der gelbe Rücken des Bauernpelzes aus meinen Augen, und an ihm vorbei zwängte sich ein Frauenkopf mit Kopftuch herein.
Noch ein Weilchen später lief ich durch den halbdunklen Korridor aus meinem Sprechzimmer in die Apotheke, um Zigaretten zu holen, und hörte flüchtig ein heiseres Flüstern: »Schlecht behandelt er. Ist noch jung. Verstehst du, ich hab einen Frosch im Hals, aber er kuckt und kuckt … auf die Brust, den Bauch … Ich hab alle Hände voll zu tun, und für das Krankenhaus geht ein halber Tag drauf. Bis ich zu Hause bin, ist es Nacht. Mein Gott! Mir tut der Hals weh, und er gibt mir ’ne Salbe für die Beine.«
»Die nehmen sich keine Zeit für unsereins«, bestätigte eine etwas klirrende Weiberstimme und verstummte plötzlich. Wie ein Gespenst war ich in meinem weißen Kittel vorbeigehuscht. Ich hielt es nicht aus und drehte mich um – und erkannte im Halbdunkel den Kinnbart wie aus Werg, die geschwollenen Lider und das Huhnauge. Auch die gefährlich heisere Stimme erkannte ich. Dann zog ich den Kopf ein, duckte mich wie ein Dieb, als wäre ich schuldig, und verschwand. Meine Seele hatte eine deutlich spürbare Schramme bekommen. Ich hatte Angst.
War wirklich alles umsonst?
Das konnte nicht sein! Einen Monat lang fahndete ich in
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