Arztgeschichten
jetzt, wo ich durch die Schlaglöcher rumple und den kleinen Leichnam und die Mutter hinter mir zurückgelassen habe. Morgen, wenn der Schneesturm sich gelegt hat, schafft Pelageja Iwanowna die Frau zu mir ins Krankenhaus, und es ist noch sehr die Frage, ob es mir gelingt, sie durchzubringen. Wie soll ich sie auch durchbringen? Wie ist dieses große Wort zu verstehen? Eigentlich handle ich auf gut Glück und weiß nichts. Nun, bislang habe ich Schwein gehabt. Mir sind erstaunliche Heilungen gelungen, doch heute hatte ich Pech. Ach, wie mir das aufs Herz drückt, die Einsamkeit, die Kälte, das Fehlen jeglichen Umgangs. Vielleicht habe ich sogar ein Verbrechen begangen – das Ärmchen. Ich müßte irgendwohin fahren, irgendwem zu Füßen fallen und sagen, so und so, ich sei Doktor Derundder und hätte einem Säugling das Ärmchen gebrochen. Nehmt mir das Diplom weg, ich bin seiner unwürdig, liebe Kollegen, schickt mich nach Sachalin. Puh, ich werde schon neurasthenisch!
Ich legte mich auf den Schlittenboden, krümmte mich zusammen, damit die Kälte nicht mehr so schrecklich an mir fraß, und fühlte mich wie ein jämmerliches Hündchen, unbeholfen, obdachlos.
Lange, lange fuhren wir, bis mir endlich das kleine, doch so freundliche, heimatliche Laternchen am Krankenhaustor entgegenleuchtete. Es zwinkerte, schmolz, flammte auf, verschwand wieder, lockte. Bei seinem Anblick wurde mir etwas leichter um das einsame Herz, und als die Laterne schon nicht mehr verschwand, als sie wuchs und näher kam, als die Mauern des Krankenhauses nicht mehr schwarz, sondern weißlich aussahen und ich zum Tor hineinfuhr, sagte ich schon zu mir selber:
Das mit dem Ärmchen ist doch Quatsch. Unwichtig. Du hast einem toten Kind den Arm gebrochen. Denke nicht an den Arm, sondern daran, daß die Mutter lebt.
Die Laterne munterte mich auf, ebenso die wohlbekannte Vortreppe, und doch, als ich schon zu meinem Arbeitszimmer hinaufstieg, die Wärme des Ofens spürte und im voraus den Schlaf genoß, den Retter von allen Qualen, murmelte ich vor mich hin: »Schön und gut, aber trotzdem ist es gräßlich und einsam. Furchtbar einsam.«
Der Rasierapparat lag auf dem Tisch neben dem Becher mit dem kalt gewordenen Wasser. Verächtlich warf ich ihn in die Schublade. Wahrhaftig, sehr dringend, sich jetzt zu rasieren …
Doch nun ist ein ganzes Jahr herum. Während es sich hinzog, erschien es vielgesichtig, vielgestaltig, schwierig und schrecklich, dabei weiß ich jetzt, es ist vorübergeflogen wie ein Orkan. Ich blicke in den Spiegel und sehe die Spuren, die es in meinem Gesicht hinterlassen hat. Die Augen sind ernster und ruheloser geworden, der Mund selbstsicherer und männlicher, und die Falte über der Nasenwurzel wird mir ebenso fürs ganze Leben bleiben wie meine Erinnerungen. Ich sehe sie im Spiegel, ungestüm eilen sie dahin. Verzeihung, wann hatte ich doch noch geschlottert beim Gedanken an mein Diplom und mir ausgemalt, ein phantastisches Gericht würde über mich verhandeln und drohende Richter würden mich fragen:
»Und der Kiefer des Soldaten? Antworte, du Missetäter, der die Universität absolviert hat!«
Wie könnte ich das je vergessen! Die Sache war die: Obwohl es den Feldscher Demjan Lukitsch gab, der den Leuten die Zähne so geschickt aus dem Mund zog wie ein Zimmermann rostige Nägel aus alten Brettern, sagte mir mein Gefühl für Takt und die eigene Würde schon bei meinen ersten Schritten im Krankenhaus Murjewo, ich müsse selber lernen, Zähne zu ziehen. Demjan Lukitsch konnte ja auch mal abwesend oder krank sein, und die Hebammen
bei uns konnten alles, nur eines nicht, Verzeihung – Zähne ziehen, das war nicht ihre Aufgabe.
Also … ich sehe noch das herrlich rotwangige, doch schmerzzerquälte Gesicht vor mir auf dem Hocker. Ein Soldat war es, nach der Revolution mit den anderen von der zerfallenen Front nach Hause zurückgekehrt. Ganz genau erinnere ich mich an den riesigen, fest im Kiefer sitzenden, kräftigen Zahn mit dem Loch. Mein Gesicht in weise Falten legend und besorgt ächzend, faßte ich den Zahn mit der Zange, wobei mir Tschechows bekannte Erzählung in den Sinn kam, wie einem Küster der Zahn gezogen ward. Und zum erstenmal dachte ich, daß diese Erzählung kein bißchen komisch sei. Im Mund knirschte es laut, der Soldat jaulte: »Auuu!«
Der Widerstand unter meiner Hand hörte auf, die Zange sprang aus dem Mund und brachte eingeklemmt einen blutigen weißen Gegenstand zum Vorschein. Es gab mir einen
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