Aschenputtels letzter Tanz
Fäusten. Es sieht mir nicht ähnlich, so ängstlich zu sein. Ich habe mich im Moor immer wie zu Hause gefühlt, aber jetzt ist auf einmal irgendetwas anders. Beinahe drohend erheben sich die Bäume über mir, und mein Instinkt sagt mir, ich sollte nicht weitergehen.
Irgendwo auf der anderen Seite ist Elsa überfallen worden. Gepackt und für immer gezeichnet.
»Unsinn«, murmle ich, und um mir selbst zu beweisen, dass ich kein Angsthase bin, gehe ich weiter ins Dunkel hinein. Melli Beese hat auch nie Angst gehabt, wenn sie in ein Flugzeug gestiegen ist, obwohl sie ein paar Mal abgeschmiert ist. Es sind nur Sträucher, nichts, wovor man sich fürchten müsste.
Meine Fingerspitzen streifen die Rinden der Bäume, an denen ich vorübergehe. Noch ist der Boden unter mir fest und leicht begehbar, über mir zwitschert eine Drossel, und der Wind lässt die Kronen hin und her schwanken, als würden die Bäume einen Tanz aufführen. Es istwie in einer anderen Welt, es gibt keine Häuser, keine Autos und meilenweit keinen Menschen.
Nur mich.
Ich könnte genau jetzt durch ein Erdloch stolpern und mir das Bein brechen, und niemand würde mich hören, wenn ich um Hilfe schreie. Aber ich könnte auch nackt durch den Wald springen und niemanden würde scheren. Natürlich tue ich das nicht, schließlich gibt es genug Mücken, denen mein Hintern sehr willkommen wäre.
Zweige und Gräser streifen meine Beine, und schon nach wenigen Minuten sind die Hosenränder schwer vom Regenwasser, das noch an den Pflanzen hängt. Für ein paar Augenblicke wird der Wald immer dichter und dichter, bis ich unter einem tief hängenden Ast hindurchkrieche und auf der anderen Seite des Bruchwalds herauskomme.
Vor mir erstreckt sich eine offene Landschaft.
Das Geißelmoor.
Die Sonne wirkt milchig hinter den Wolken. Wenn ich vom Moor träume, ist es immer in das Licht dieser dämmrigen Sonne getaucht, genau wie jetzt, als würde der Tag es nie ganz erreichen. Jemand, der es nicht kennt, denkt vielleicht, dass es nur eine mit Büschen und Birken spärlich bewachsene Waldlandschaft ist, aber ich weiß es besser. Schon immer hat mich dieses Land fasziniert, selbst als kleines Mädchen habe ich mir von Großmutter seine Geschichten erzählen lassen.
In den flackernden Oktobernächten, wenn der Sommer um seine Herrschaft kämpft, soll schon so mancher im abendlichen Lichterspiel der untergehenden Sonne vom Weg abgekommen sein.
Meier, der Schuster am anderen Ende des Ortes, hat auf diese Weise seinen ältesten Sohn an das Moor verloren. Es heißt, das Geißelmoor hätte im Laufe der Zeit Hunderte Seelen verschluckt, die nie wiedergekehrt sind. Die Leiber sind mit schweren Gliedern auf den Grund gesunken und das Gewicht ihrer Wehmut drückt sie in den schlammigen Boden.
Ihr Flüstern verfängt sich in den Bäumen und begleitet die Spaziergänger.
Misstrauisch sehe ich auf die Faulbäume, die den Übergang zum Moor markieren, doch es ist nichts zu hören.
Die Bäume sind gute zwei Meter hoch. Ihre kugeligen Früchte sind erst grün und färben sich später rot und schwarz, manche Bäume tragen sogar gleichzeitig grüne, rote und schwarze Früchte. Sie sehen wunderschön aus, aber der leichte Fäulnisgeruch der Rinde kriecht mir in die Nase, und so gehe ich angewidert ein paar Schritte rückwärts.
Hast du etwa Angst?
»Nur dichte, wasseraufsaugende Polsterdecken, die an der Oberfläche weiterwachsen, während die tieferen Schichten absterben und in Hochmoortorf übergehen …«, murmle ich vor mich hin.
Das lernt jedes Kind in Geografie, und in Mahnburg sogar schon im Kindergarten.
Was soll daran schon Angst einflößend sein?
Moore haben keine Seele.
Obwohl das Moor nie gleich bleibt, weil es sich stetig verändert, gibt es einige Wege, die sicher hindurchführen. Meine Füße schieben sich auf den wankenden Grasschollen vorsichtig vorwärts. Es fühlt sich an, als würde man auf Eis laufen, tastend, prüfend, ob die Oberfläche hält, was sie vorspiegelt. Mutsch gefällt es nicht, wenn ich im Moor spazieren gehe, aber sie weiß auch, dass ich keine Idiotin bin. Ich gehe keine Risiken ein, schließlich habe ich wenig Lust, ins kalte Wasser zu fallen. Schon gar nicht, wenn ich ganz allein unterwegs bin.
Nach einer Weile komme ich in die Nähe des Scherbenbergs. Dort treffen sich die Jugendlichen aus dem Ort, um Partys zu feiern und im Sommer zu grillen. Es ist ein künstlich aufgeschütteter Wall, der den Abfluss des Wassers verhindern soll.
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