Aschenputtels letzter Tanz
Langsam kommt er näher und wieder weiche ich ein Stück zurück. Ich bin kleiner und leichter als er, wenn ich wegrennen muss, bin ich auf dem Torf vielleicht im Vorteil.
»Ein Mädchen … dahinten«, wiederhole ich, »… sie ist verletzt …«
Sofort nickt er und deutet über meine Schulter. »Zeig mir die Richtung.«
Ich will nicht noch einmal ins Moor gehen, aber wie soll ich ihm sonst erklären, an welcher Stelle das Mädchen liegt?
Also nicke ich, warte jedoch, bis er in einiger Entfernung an mir vorübergegangen ist; er scheint zu verstehen, dass ich ihm nicht den Rücken zudrehen will. Mit knappen »rechts« und »links« dirigiere ich ihn vorwärts, während wir gemeinsam zurückrennen. Er kennt sich im Moor gut aus, denn seine Schritte treffen zielsicher den Weg.
Als wir an der Stelle ankommen, an der das Mädchen liegt, schnappt auch er bei ihrem Anblick nach Luft.
»Hast du ein Handy?«, fragt er, als er neben ihr niederkniet und ihren Puls fühlt.
Ich schüttle den Kopf.
»Dann nimm meins.«
Er zieht es aus seiner Westentasche und streckt es mir entgegen, ohne mich anzusehen. Einen Moment zögere ich, dann greife ich rasch danach, während erdas Mädchen auf die Arme nimmt, als würde es nichts wiegen.
»Ruf einen Krankenwagen. Sag ihnen, wir haben eine Verletzte nahe dem Scherbenberg gefunden und dass wir am Grundstück deiner Großmutter warten. Sie können mit dem Wagen nicht ins Moor fahren.«
Woher weiß er, wer ich bin?
Doch ich frage nicht nach, stattdessen tippe ich die Notrufnummer in das Handy und bin froh, dass ich durchkomme. Wie mechanisch wiederhole ich seine Worte. Die Frau am anderen Ende fragt mich irgendwelche Dinge, die ich kaum verstehe, deshalb drücke ich sie einfach weg, als ich alles runtergerattert habe.
Wir stolpern zurück durch das Moor, und als wir endlich Großmutters Grundstück erreichen, steht der Krankenwagen bereits dort und die Sanitäter halten nach uns Ausschau.
Dann geht alles sehr schnell, der Mann übergibt ihnen das Mädchen, und sie fordern ihn auf, mit mir gemeinsam ins Krankenhaus zu fahren. Ein weiterer Schreck durchfährt mich, aber ich sage mir, dass er mir wohl kaum etwas antun wird, wenn die Sanitäter uns zusammen gesehen haben.
»Ist jemand zu Hause?«, fragt er und deutet auf das Herrenhaus hinüber. Als ich verneine, schaut er mich besorgt an. »Willst du jemanden anrufen und Bescheid sagen, wo du bist?«
Wieder leiht er mir sein Handy, ein altes Ding mit zerkratztemDisplay, und ich rufe Mutsch an, nur leider geht sie nicht ran und ich kann nichts tun, als ihr auf die Mailbox zu sprechen. Es ist ein fürchterliches Gestammel, und nach kurzer Zeit nimmt mir der Mann das Telefon aus der Hand, um selbst etwas zu sagen. Er nennt seinen Namen – Billy – und erklärt, dass er mich mit dem Auto ins Krankenhaus fährt. Was mich zusätzlich beruhigt, denn jetzt weiß auch Mutsch, dass er mich begleitet. Dann schiebt er mich in Richtung Straße, wo ein alter Kombi steht, der offenbar ihm gehört. Der ganze Wagen riecht nach Schaf und am Rückspiegel hängt ein albernes Plastikgerippe, das die ganze Zeit hin und her wackelt.
»Was ist mit der Heidschnucke?«, murmle ich wie eine Idiotin, aber er zuckt nur mit den Schultern.
»Mach dir keine Sorgen ihretwegen, die kommt auch mal eine Stunde ohne mich zurecht. Ich hole sie später ab. Das ist die Strafe dafür, dass sie abgehauen ist.«
Als ich nach unten sehe, merke ich, dass ich noch immer das Blut an den Fingern habe und meine Knie von der feuchten Erde verdreckt sind. Mit hektischen Bewegungen versuche ich, die Finger an der Jeans abzuwischen, doch das getrocknete Blut will einfach nicht verschwinden.
D as städtische Krankenhaus ist ein alter Klinkerbau, dessen Wände mich zu erdrücken scheinen. Das Licht der Neonröhren zeichnet meinen Schatten scharf gegen die lindgrün gestrichene Wand und wie ein Zombie folge ich Billy durch die engen Flure. Eine merkwürdige Glocke hat sich über meinen Kopf gestülpt, durch die ich nur die Hälfte von dem verstehe, was um mich herum gesprochen wird.
Ich sehe Billy mit einer Krankenschwester reden, während die Sanitäter das Mädchen in ein Zimmer weiter unten im Gang bringen. An ihrem Arm hängt ein Infusionsbeutel. Niemand hält mich auf, als ich den Sanitätern hinterhergehe und in der offenen Tür stehen bleibe. Unter dem grellen Licht eines riesigen runden Strahlers liegt die Eisprinzessin auf einer braungrünen Liege und wirkt
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