Aschenputtels letzter Tanz
ein vorschnelles Ende finden.
Begierig wartet das Moor auf die Leichtsinnigen, die jene Warnschilder ignorieren, die entlang der Grenze aufgestellt sind. GEFAHR!, steht auf jedem von ihnen. Rot auf weißem Grund.
Ich wende das Gesicht ab und schaue wieder nach vorn auf das Haus. Niemals zuvor hat mich der Anblick der warnenden Baumriesen am Rand des Grundstücks beunruhigt, doch an diesem Tag ist irgendetwas anders. Schon seit wir zu Hause abgefahren sind, kann ich diesenkalten Klumpen in meinem Magen spüren, der nicht verschwinden will, ganz gleich, wie viel heißen Raststättenkaffee ich in mich hineinschütte.
Um in der Nähe eines Moors zu leben, braucht man ein gewisses Naturell , sagt Mutsch immer, wenn sie jemand fragt, warum sie aus Mahnburg weggezogen ist. Was sie wirklich meint, ist, dass man ein bisschen seltsam im Kopf sein muss, weil man es ja sonst nicht ertragen könnte, in der Nähe dieses Schlunds zu leben.
Sie hat das Moor nie gemocht.
Ich dagegen schon. Ich kenne das verschlungene Muster seiner Wege wie die Linien auf meiner Hand und der unsichere Gang über den schwankenden Torf macht jeden Streifzug dort zu einem kleinen Abenteuer.
Nervös spiele ich mit dem Reißverschluss meines Rucksacks, den ich auf den Knien balanciere, und wenn ich könnte, würde ich wahrscheinlich genauso mit dem Schwanz zittern wie Edgar und Tennessee. Neben mir atmet Mutsch noch einmal tief durch, bevor sie die alte, zerkratzte Sonnenbrille vom Flohmarkt aus ihrem Trenchcoat fingert und aufsetzt. Dabei trägt sie die Brille nur, weil es Großmutter ärgert. Denn eigentlich ist gar keine Sonne hinter den schwarzen Wolken zu sehen.
Mit dem Mittelfinger schiebt sie die Brille auf ihrer schmalen Nase nach oben und fragt: »Bereit?«, und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken, obwohl ich alles andere als bereit bin.
Mit klammen Fingern greife ich nach dem Türöffner,und kaum ist die Autotür einen Spaltbreit offen, schlägt mir auch schon der erdige, nasskalte Geruch des Moors entgegen und verfängt sich spinnwebengleich in meinen Haaren.
Unter meinen Stiefeln knirscht der Kies, die ersten Tropfen fallen schon auf unsere Köpfe, als wir auf das Herrenhaus zurennen, und nicht einmal ein Dutzend Schritte braucht es, bis wir klitschnass sind. Das schwere braune Haar, das ich von Mutsch geerbt habe, zieht meinen Kopf nach vorn, und von der Nasenspitze perlt der Regen auf meine Stiefel. Unangenehm kühl kriecht mir die Feuchtigkeit in den Kragen und in meinem Magen verdichtet sich der kalte Klumpen zu Eis.
»Ich wette, sie haben das Auto längst gehört und lassen uns absichtlich hier draußen stehen«, sagt Mutsch ungehalten, während wir triefend auf der Fußmatte stehen und darauf warten, dass uns jemand ins Haus lässt. Mit dem Daumen drückt sie energischer auf den Klingelknopf, bis hinter der Tür endlich Schritte zu hören sind.
Als sie sich öffnet, ertönt Großmutters tiefe Stimme: »Nur weil du wie eine Verrückte klingelst, kann ich trotzdem nicht schneller laufen, Susan.« Sie steht im Türrahmen und versperrt uns den Weg ins Trockene. Dabei sieht sie kritisch auf uns herab, ihre gerade schmale Nase scheint wie ein Zeigefinger auf uns gerichtet. An diesem Tag ist sie in einen cremefarbenen, maßgeschneiderten Hosenanzug gekleidet, der ihre Strengeunterstreicht, und um ihren Hals windet sich eine zweireihige Perlenkette. Noch immer überragt sie uns alle. Mutsch und ich haben die Hoffnung längst aufgegeben, dass ich eines Tages größer sein werde als sie.
Ein bisschen erinnert sie mich an die Bäume, die den Ort vom Moor trennen – hochgewachsene Wächter.
»Trägt man das jetzt so?«, fragt sie spitz und lässt den Blick abschätzig über meine graue Fliegerjacke mit den abgewetzten Ellbogen gleiten, die Mutsch und ich in einem Secondhandshop gefunden haben und in die ich immer noch reinwachse. Die Ärmel sind bis zum Ellbogen hochgeschoben, weil sie mir sonst ständig über die Handgelenke rutschen.
Angriffslustig senke ich das Kinn und stecke die Hände in die Hosentaschen, wodurch mir der Rucksack von der Schulter rutscht. »Mir gefällt’s«, murmle ich, doch bevor ich noch mehr erwidern kann, sagt Mutsch auch schon: »Komm«, und schiebt mich an Großmutter vorbei in den Flur. Dabei ist ihr Mund zu einem schmalen Strich verzogen, und Großmutter muss an die Wand treten, um nicht mit unseren nassen Klamotten in Berührung zu kommen. Unsere Schuhe erzeugen kleine Seen auf dem
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